Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
worden war, der eine Möglichkeit schaffen wollte, an Lepra und Fieber erkrankte Pilger zu heilen. Die riesigen Gemäuer, in denen eine kleine Herberge eingerichtet war, ließen erahnen, welch wertvolle uneigennützige Arbeit an diesem Ort verrichtet worden war. Ich setzte mich vor die Klosterruine auf eine Steintreppe, aß Brot und Käse, die mir Kraft für meinen weiteren Weg spenden sollten. Ehrfurcht erfüllte mich, als ich an die leprakranken Menschen und die helfenden Hände von San Antón dachte, der viel Kraft und Liebe investiert hatte, um den Pilgern zu helfen.
Die gelben Pfeile leiteten mich weiter nach Castrojeriz, über dem auf einem Berg die Burgruine Castrum Sigerici majestätisch thront und dem Ort etwas Erhabenes verleiht. In früherer Zeit befanden sich in Castrojeriz sieben Hospize. Heute bieten eine Herberge und einige private Quartiere dem Pilger Unterkunft.
In einer ursprünglichen alten Bar entdeckte ich ein Bild von Paulo Coelho. Der Camino hatte dessen Leben verändert. Einige Bücher, die er nach seiner Pilgerschaft geschrieben hatte, begeisterten mich. Während ich einen Kaffee trank, kam eine junge, groß gewachsene Pilgerin in die Bar, die zu einem späteren Zeitpunkt noch eine bedeutende Rolle auf meiner Pilgerschaft einnehmen sollte, was ich zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht ahnen konnte. Es war der Augenblick, als sich unsere Blicke trafen. Nur kurz - doch da war etwas. Nach der Rast versorgte ich mich in einem kleinen Laden mit Bananen und Schokolade und hob an einem Automaten Geld ab, von dem ich glücklicherweise nicht viel benötigte.
Der lange steile Anstieg auf den 900 Meter hohen Tafelberg zehrte an meinen Kräften. Doch die grandiose Aussicht, die sich mir auf dem Berg darbot, entschädigte mich für die Anstrengungen. Ein böiger Wind fegte über das Plateau. Der Abstieg gefiel meinen Knien nicht besonders; ich fühlte mich müde und setzte mich an den Rand der Felder. Ich musste daran denken, wie oft mir in meinem Leben schon geholfen wurde. Wenn ich Probleme hatte, es mir schlecht ging und ich nicht mehr wusste, wie es weitergehen sollte, habe ich Hilfe in Form von Menschen, Büchern oder auf andere Weise erhalten. Mittlerweile war mir klar, dass der Camino ebenso eine große Lebenshilfe darstellte. Ich sprach ein Gebet und bedankte mich. Bedankte mich für meine großartigen Eltern, meine wundervollen Kinder, meinen lieben Bruder, meine wertvollen Freunde und meine Gesundheit.
Beim Blick zum Himmel fragte ich mich, wie es wohl dort oben weitergehen würde. »Wie weit ist es bis zur Ewigkeit? Wie weit?« Ein wunderschöner Gedanke. Obwohl ich erschöpft war, stand ich auf, nahm meinen Rucksack, der nun doppelt schwer schien, meine Wanderstöcke und ging los. Schweren Schrittes wanderte ich bis zur Quelle Fuente El Piojo, wo ich frisches Wasser auftankte. Ich trank reichlich und aß zwei Bananen in der Hoffnung, neue Kräfte zu erhalten. Nachdem ich einige hundert Meter zurückgelegt hatte, stellte ich fest, dass an diesem Tage nichts meine Müdigkeit vertreiben konnte. Wenn ich müde war, hatte ich den Eindruck, als nähme der Weg kein Ende. Am späten Nachmittag erreichte ich die Kirche San Nicolás, in der sich eine der außergewöhnlichsten Herbergen auf dem gesamten Jakobsweg befindet. Die Kirche aus dem 13. Jh. gehört dem Pilgerhospital des Malteser-Ordens an, wurde von der Jakobusbruderschaft Perugia, in Italien, restauriert und 1994 eröffnet.
An der Eingangstür begrüßte mich Lino, der Herbergsvater, und teilte mir mit, dass ich das letzte Bett beziehen dürfe. Glücklich legte ich meinen Schlafsack und dann mich selber aufs Bett. Als ich meine Augen wieder öffnete, dauerte es einige Augenblicke, bis mir vollends bewusst war, wo ich mich befand. Neben mir im Bett wechselte eine Frau, weit über die siebzig, ungezwungen ihre Kleidung. Ich empfand einen gehörigen Respekt vor den Menschen, die in den Herbergen rücksichtsvoll und ohne falsche Schamgefühle miteinander umgingen.
Neben der Kirche, auf einer Wiese, machte ich beim Wäscheaufhängen die Bekanntschaft mit einem Paar aus dem Schwabenland, mit dem ich ein längeres Gespräch über Gott und den Glauben führte. Vor dem Abendessen bat Lino alle Pilger zum Portal, wo für jeden ein Stuhl im Halbkreis bereitstand. Während er nach alter Tradition jedem Pilger die Füße wusch, lag eine heilige Atmosphäre in der Luft. Die zeremonielle Handlung, bei der Lino einige Worte sprach, trieb manch einem vor
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