Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
manchmal noch mehr Tageskilometer hinter sich hatten, todmüde in den Herbergen eintrafen und kein Bett bekamen? Der Gedanke machte mich wütend.
Beim Abendessen saß ich mit einem Ehepaar aus Mönchengladbach und Ida an einem Tisch. Auch an diesem Abend hatte ich das Gefühl, dass alles so sein musste, wie es war. Die Menschen waren mir vertraut. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, dass wir zusammengeführt worden waren. Warum und weshalb ich diese Gefühle hatte, wusste ich nicht. Genau so, wie es war, war es richtig. Ich bekam den Eindruck, dass Ida eine weise Frau war. Sie wählte ihre Worte bewusst und redete nicht nur des Redens wegen. Seltsamerweise entwickelte sich bei mir immer mehr ein Gespür für die Menschen, die mir begegneten. Ich bekam ein ständig wachsendes Empfinden für die Wichtigkeit der Gespräche, die oft auf eine bestimmte Person wie zugeschnitten schienen. Ja, ich glaubte, dass sich immer ein oder mehrere Protagonisten in einer Runde befanden, für die die Begegnung und die Gespräche von Bedeutung waren. Die Menschen werden auf den Jakobsweg geführt. Dessen war ich mir sicher.
Nach dem Essen spazierten wir durch den menschenleeren Ort. Es war noch angenehm warm. Das Ehepaar verabschiedete sich. Ida erzählte mir, dass sie ihre Erlebnisse in Gedichtform niederschreiben würde. Ich fragte, ob sie mir ein Gedicht vorlesen möchte. Sie schlug ihr Büchlein auf: »Tag / der aufgehenden / Knospe / Tag / der Neugeburt / des einzigartigen / Neubeginns.« Das Gedicht stammt vom 13. Mai, sagte Ida beiläufig. Ich bekam eine Gänsehaut.
»Ida - das ist unglaublich. Der 13. Mai war für mich ein ganz besonderer Tag auf meiner Pilgerschaft. Er war wie eine Neugeburt. Am 13. Mai habe ich mir meinen neuen Namen Manolo gegeben.« Ida lächelte mich mit ihren warmen blaugrünen Augen an. »Welch ein Zufall.«
»Ich glaube seit Jahren nicht mehr an Zufälle«, entgegnete ich ihr.
»Ich glaube auch nicht an Zufälle«, meinte Ida und holte eine Karte hervor, auf der ein Engel ein Kind auf seinen Händen trägt. Das Bildnis zeigte mir auf, dass wir alle einen Engel haben, der uns unterstützt und nötigenfalls sogar trägt. Ich mochte diese kleine einfühlsame Frau, mit ihrem großen Herzen, das vor Liebe überzuquellen schien. Ich fühlte diese Liebe. Es war eine ehrliche und wahrhaftige Liebe, die mein Herz berührte. Ida schaute in meine Augen: »Mano, deine Worte sind offen und ehrlich. Achte darauf, an wen du sie richtest. Nicht alle Menschen verstehen sie, und sie sind auch nicht für alle gedacht. Wenn du dich in der Gegenwart von anderen öffnest, dann bist du auch verletzlich. Jesus beschrieb es als Perlen vor die Säue geworfen. Du weißt, was damit gemeint ist. Sei aufmerksam.«
»Vielen Dank, Ida, ich weiß, was du meinst. Derartige Erfahrungen habe ich schon hinter mir. Deshalb bin ich vorsichtiger im Umgang mit Menschen geworden. Mir ist bewusst, dass ich sensibel und anfällig für Verletzungen bin. Früher glaubte ich, dass meine Sensibilität negativ behaftet sei, eine Schwäche, eine Weichheit, die keineswegs zu einem Mann passt. Heute weiß ich, dass das Blödsinn ist. Auch Männer dürfen schwach sein. Und sie sind es, obwohl sie es oft überspielen wollen. Während meiner Kindheit war das problematisch, weil ich mit niemandem darüber reden konnte. Manchmal glaubte ich wegen meiner Andersartigkeit krank zu sein. Als Erwachsener stellte ich fest, dass es sich nicht um eine Krankheit, sondern um ganz normale Gefühle handelte.
Ich habe verletzt und bin verletzt worden. Und ich habe vor Jahren aufgehört, irgendjemanden, für was auch immer, verantwortlich zu machen. Es bringt nichts. Denjenigen, die einem Verletzungen zugefügt haben, zu vergeben, führt zur Heilung. Und sich selbst zu vergeben, ist wichtig. Ich habe Menschen verletzt, weil ich es nicht besser wusste. Ein Mensch, der in sich ruht und innere Stärke besitzt, verletzt niemanden. Es gibt immer einen Weg der Vergebung: Wenn jemand einen Menschen verletzt hat, dann kann er ihm sagen oder schreiben, dass es ihm Leid tut, und um Vergebung bitten. In den letzten Jahren habe ich das bewusst praktiziert. Die Menschen, die mich verletzt haben, segne ich und bete für sie. Seitdem ich so handele, fühle ich keinen Hass oder Groll mehr. Das hat in meinem Herzen und in meiner Seele zur Klärung geführt.«
»Das sehe ich auch so, Mano. Wenn du Frieden mit dir und deinen Mitmenschen schließt, hast du viel für die Menschheit
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