Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
getan. Und wenn es jeder Mensch tun würde, hätten wir Frieden auf Erden.« Ida sah auf ihre Uhr. »Ich muss jetzt leider in die Herberge. Wir haben kurz vor zehn.«
Wir drückten einander ganz fest.
»Vielen Dank, Ida, für deine wertvollen Worte, die mir viel Kraft und Selbstvertrauen für mein Leben geben.«
»Danke für deine Worte, Mano, die mir auch viel Kraft und Liebe für meinen weiteren Weg geben. Schlaf schön. Wir sehen uns bestimmt morgen auf dem Weg.«
Es gibt wahrhaft noch Engel in Menschengestalt. Solcherlei Begegnungen waren es, die den Jakobsweg prägten. Als ich den Schlafsaal in der Herberge betrat, schliefen die meisten. Ich bewegte mich möglichst geräuschlos, putzte meine Zähne und krabbelte in meinen Schlafsack. Das Letzte, was ich an diesem Tage wahrnahm, war die Christus-Statue, die mich mit ausgebreiteten Armen in den Schlaf begleitete.
»Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne.«
Friedrich Nietzsche
12 Santa Sofia
Beim Frühstück erregte ein Gemälde in der Küche meine Aufmerksamkeit. Den Vordergrund beherrschten zwei nackte Füße. Dahinter war ein breiter Weg gezeichnet. Aus allen Himmelsrichtungen wiesen gelbe dicke Pfeile auf den Weg. Am Ende des Weges befand sich ein Holzkreuz mit Jesus Christus. Zweifelsohne handelte es sich um den Jakobsweg. Ich sah in dem Gemälde auch den Weg der gesamten Menschheit. Manch ein Lebensweg ist schmerzvoll, verwirrend, scheint keinen Sinn zu ergeben. Ein anderer ist von Erfolg gekrönt, von Reichtum, von Glück und Wohlstand. Ich glaube, dass alles einen Sinn hat. Selbst die Sinnlosigkeit, der Schmerz und die Sackgassen, in denen wir uns hin und wieder befinden. Gerade die Sackgasse kann zu einem wichtigen Lehrpfad werden. Wenn ich mich in einer solchen befand oder das Gefühl hatte, vor einer unüberwindbaren Mauer zu stehen, bekam ich den Eindruck, mich nicht mehr auf meinem »Haupt-«Lebensweg zu befinden. Die Mauer hatte für mich zudem noch eine spezielle Bedeutung. Sie wurde im Laufe meines Lebens zu einem Sinnbild für Geduld. Wenn ich mit aller Macht gegen sie anrannte oder sie überwinden wollte, holte ich mir Wunden. Ich hatte eingesehen, dass es besser war, an der Mauer entlangzugehen, bis sich eine Öffnung bot, die ich schmerzlos durchschreiten konnte. Wenn ich mich an Gottes Ordnungen hielt, ging es mir gut.
Als ich meine Füße vor die Herberge setzte, empfingen mich ein wolkenverhangener Himmel und eine Frauenstimme. »Hallo,
Mano, wie geht’s?« Ich drehte mich um und sah in das Gesicht von Ulli, die ich Tage zuvor kennen gelernt hatte.
»He, Ulli, immer wenn ich an dich denke, fällt mir der Satz mit dem Zitroneneis ein. Wenn Zitroneneis früher einmal das Lieblingseis einer Person gewesen ist, muss das nicht ein Leben lang so bleiben. Ich finde, dass in diesem Satz eine bedeutende Philosophie verborgen ist.«
»Freut mich, dass er dir gefällt.«
»Wo sind Tilo und euer amerikanischer Freund Roberto?«
»In einem Geschäft einkaufen.«
Ulli und Tilo hatten Roberto zwei Jahre zuvor auf dem Jakobsweg kennen gelernt, sich mit ihm angefreundet und beschlossen, in diesem Jahr gemeinsam zu pilgern.
Die Sonne war im Begriff, die Wolkendecke aufzulösen. Am Feldrain entdeckten wir Ida, die ein neues Gedicht schrieb. Ich freute mich, sie wiederzusehen. Ida erzählte uns, dass sie ihre Eindrücke sofort aufschrieb, weil sie abends oft nicht mehr vorhanden waren, genauso wie die tieferen Gefühle, die sich ebenfalls nicht aufbewahren ließen, bis sich Zeit zum Schreiben fand. Als ich Ida zum Abschied drückte, wurde ich traurig, weil ich mir sicher war, sie nicht wiederzusehen. Ida legte pro Tag höchstens 15 Kilometer zurück. Minuten später stießen Tilo und Roberto zu uns, die nach einem kurzen Gespräch feststellten, dass mein Tempo nicht das ihrige war, und alsbald nicht mehr zu sehen waren.
Mittlerweile war es sonnig und angenehm warm. Hinter mir, in sicherer Entfernung, machte ich Martin in seinem markanten weißen T-Shirt aus. Mein erster Gedanke war, mein Tempo zu erhöhen, um einer Konversation mit ihm aus dem Wege zu gehen. Ich entschied mich für eine andere Variante, machte eine Rast und grüßte ihn freundlich, als er an mir vorbeiwanderte.
Die Welt war in Ordnung. Das Leben fühlte sich gut an. Ich empfand den Jakobsweg als mein Zuhause. Bei den außergewöhnlichen
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