Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
stand auf, putzte die Zähne, zog mich an und ging hinunter. Um sieben stand ich vor der Tür. Es war kalt und regnerisch. Ich hatte noch ein Stück Brot vom Vortag, das ich während des Gehens aß. Nach wenigen Minuten zog ich mein Regencape über. Ich steigerte mein Tempo.
Charakteristisch für die Gegend, die ich durchwanderte, sind die Maisspeicher, hórreos genannt, die, lang gestreckt und winddurchlässig, die Maiskolben auf natürliche Weise trocknen. Ich mochte die volksarchitektonischen Bauten, die diese Gegend prägen, ebenso wie die Friedhöfe, auf denen fast jedes Grab ein kleines Granitmonument darstellt. Auf den Friedhöfen Galiciens sind heute noch Spuren keltischen Geisterglaubens in Form einer enormen Anhäufung von Kreuzen zu finden. Sie symbolisieren die Abwehr des Bösen. Der Jakobsweg in Galicien hat nicht viel an Monumenten zu bieten. Sie fehlten mir nicht. Die kleinen Ortschaften mit ihren unscheinbaren Sehenswürdigkeiten reichten mir. Und die grandiosen Naturlandschaften Galiciens fand ich sowieso um ein Vielfaches schöner als die Monumente aus Stein. Um neun ging ich in eine Bar und steuerte geradewegs auf Gertrud zu. Sie konnte wieder einigermaßen gehen und hatte sich vorgenommen an diesem Tag 16 Kilometer zu wandern. Daher hatte sie den Entschluss gefasst, Santiago gehend zu erreichen. Ja, Santiago, dachte ich. Mein Pilgerziel lag so nahe. Nach dem Frühstück packte ich mein Regencape wieder in den Rucksack und wünschte Gertrud ein gutes Ankommen in Santiago.
Ich stiefelte alleine meines Weges, betete, sang meine Lieder und dachte darüber nach, wie es nach der Pilgerschaft wohl in meinem Leben weitergehen würde. Doch erst einmal wollte ich in Santiago ankommen. Dann würde sich alles Weitere ergeben. Ich stellte fest, dass meine Schritte kraftvoller waren. Hinter dem hübschen Ort Coto erreichte ich die Provinz A Coruña, deren Hauptstadt Santiago de Compostela ist. Ich überlegte, ob ich nicht vielleicht schon am nächsten Tag Santiago erreichen könne, und wollte dies am Abend entscheiden.
In Melide empfing mich eine Menschenmasse, die ein heiliges Fest zelebrierte. Die schmale Straße, die zur Kirche führte, war mit Bildern aus farbenprächtigen Blüten geschmückt. Ich trat spontan in eine Kirche ein, in der sich lediglich eine Person aufhielt, zündete eine Kerze an, kniete mich in eine Bank und sprach ein Gebet. Nach dem Gebet setzte ich mich und nahm die andächtige Stimmung in mich auf. Zu meiner Linken stand eine Pilgerstatue aus dem Mittelalter. Der Pilger zeigte mit seiner linken Hand zum Kreuze Jesus Christus, als wenn er mir mitteilen wolle: »Das ist dein Weg, Gott ist dein Ziel. Verlier es nicht aus den Augen.« Ich ließ noch eine Weile die friedvolle Stimmung auf mich wirken, bevor ich die Kirche verließ.
Sechzehn Kilometer hatte ich bereits geschafft und der Tag war noch jung. Über Feld- und Waldwege wanderte ich Santiago entgegen. Galicien war mir gut gesonnen. Es war angenehm warm und von Regen weit und breit nichts mehr zu sehen. Nach weiteren elf Kilometern erreichte ich den Ortsanfang von Ribadiso, in dem sich eine ausgezeichnete Herberge in ruhiger Lage, unmittelbar an einem Fluss, befinden soll. In einer Bar machte ich eine längere Pause. Anschließend begegnete mir Meike, der ich mich anschloss. Ich erzählte Meike, dass ich es kaum noch erwarten konnte, endlich in Santiago anzukommen. Ihr ging es ebenso, wie sie mir bestätigte. Ich hatte das Gefühl Santiago schon zu wittern. Nach weiteren Kilometern erreichten wir Arzúa und gingen in die Herberge, die einen guten Eindruck auf mich machte. Meike entschloss sich zu bleiben, weil es bis zur nächsten Herberge noch 17 Kilometer waren und wir schon 30 hinter uns hatten. Ich beschloss meinen Weg fortzusetzen. Es zog mich förmlich weiter. Ich verabschiedete mich von Meike und zog los - und rechnete. Bis Santiago waren es insgesamt noch 42 Kilometer. Wenn ich also noch 17 schaffte, dann wären es am morgigen Tage nur noch 25. Ich ging schneller und schneller. Und bemerkte nicht, dass etwas mit mir geschah.
Irgendwann stellte ich fest, dass sich nichts Essbares mehr in meinem Rucksack befand und meine Wasserflasche fast leer war. Ich schritt durch herrlich duftende Eukalyptuswälder, auf weichen angenehmen Wegen und fühlte, wie sich langsam und stetig Blasen an meinen Füßen bildeten. Der Grund dafür war, wie ich später feststellte, meine schnelle Gangart. Doch in jenem Moment war es mir
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