Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
gleichgültig. Ich schaute auf die Uhr - und rechnete. Essen und Trinken interessierten mich nicht mehr. Das Einzige, was in meinem Kopf herumschwebte, war ein Wort - Santiago.
Immer wieder schaute ich auf meine Uhr, was ich normalerweise recht selten mache. Nach meiner Berechnung könnte ich Santiago gegen Mitternacht oder um eins erreichen. Und wenn ich kein Zimmer mehr bekommen würde, könnte ich an einer Bushaltestelle, am Flughafen oder sonstwo übernachten. Meine Blasen schmerzten zwar, doch irgendwie störte es mich nicht. Von der Umgebung, die ich durchwanderte, nahm ich schon lange keinerlei Notiz mehr. Ich hatte auch absolut keine Vorstellung, wie schnell ich unterwegs war.
Gegen sieben Uhr erreichte ich die Herberge von Santa Irene. Zwei Pilger, die vor der Herberge ihre Sachen pflegten, sagten mir, dass noch Betten frei wären. Mich zog es weiter. Ich wusste nicht, wann ich zum letzten Mal gegessen oder getrunken hatte, verspürte weder Durst noch Hunger. Der nächste Ort, den ich erreichte, war Pedrouzo. Es war acht Uhr. Eine Leuchtreklame wies auf ein Restaurant hin. Ich glaube, dass ein Engel mich an die Hand nahm und ins Restaurant führte. In dem ich zu meiner Freude Wilma, Javier und noch einige andere mir bekannte Peregrinos beim Essen antraf. Als ich mich zu Wilma und Javier an den Tisch setzte, fühlte ich Erschöpfung und einen unsäglichen Hunger. Nun war ich froh, dass mich irgendetwas gestoppt hatte. Was immer es auch gewesen sein mag. Ich war diesem etwas dankbar. Wenn ich das Wort Restaurant nicht gelesen hätte, wäre ich weitergegangen. Davon war ich überzeugt.
Plötzlich wurden die Worte von Friedhelm Links Freund, während des Diavortrags in Bad Breisig, in mir wach: »Manche Pilger verfallen, Santiago vor Augen, in den letzten Tagen in einen wahren Laufrausch und legen große Distanzen von 40, 45 oder noch mehr Kilometer zurück, ohne das es ihnen bewusst ist.«
Wilma erzählte von Papa Brasil, der vor wenigen Minuten das Restaurant verlassen hätte. Ich hätte ihn gerne gesehen, tröstete mich jedoch damit, ihn in Santiago anzutreffen. Wilma erklärte mir, dass es bis zur Herberge noch einige hundert Meter wären. Weil ich absolut keine Lust verspürte, auch nur noch einen Schritt weiter zu gehen, nahm ich mir ein preiswertes Zimmer in dem Hause, in dem ich mich befand.
Wilma und Javier waren unter den letzten Gästen, die das Restaurant verließen. Ich begab mich zur Bar. Bei einem Glas Rotwein unterhielt ich mich mit einem jungen Spanier. An der Wand faszinierte mich ein Bild, auf dem ein Pilger mit Wanderstab und Kalebasse gezeichnet war. Ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden. Morgen erreiche ich mein Ziel Santiago. Zu meiner euphorischen Freude gesellte sich eine gehörige Portion Traurigkeit. Damit wäre meine Pilgerschaft zu Ende. Ich bin fast 800 Kilometer gewandert - über Stock und Stein, durch Wälder, Wiesen, über Berge, durch kleine Orte, den gelben Pfeilen folgend.
Der Lebensweg ist ein Weg zu Gott.
14 Santiago de Compostela
Das Gemälde des Pilgers löste am frühen Morgen beim Frühstück tiefste Emotionen in mir aus. Ich wendete den Blick von dem Bild. Es war Montag, 30. Mai, der dreiunddreißigste Tag meiner Pilgerschaft. Während ich mein Croissant aß, richtete ich meine Aufmerksamkeit bewusst auf die Aktivitäten der Bedienung, die ihre Arbeit schnell und gewissenhaft verrichtete, um mich von der bevorstehenden Ankunft und die damit verbundenen starken Gefühle abzulenken.
Drei junge Pilgerinnen betraten das Restaurant, setzten sich an einen Tisch und plauderten lebhaft über Santiago. Ich fühlte mich müde, zahlte und verabschiedete mich von den Pilgerinnen: »Buen camino« Wie vertraut mir diese zwei Worte waren. »Buen camino.« Lediglich etwa 20 Kilometer lagen noch vor mir. Auf den ersten Metern schmerzten meine Blasen. Ich wanderte alleine. Die Kilometer vom Vortag steckten noch in meinen Knochen.
Nur vereinzelt begegneten mir Pilger. In einem Restaurant stärkte ich mich. Nach meiner Rast dauerte es nicht mehr lange, bis ich auf dem Monte de Gozo, dem Berg der Freude, stand, von wo aus ich zum ersten Mal auf Santiago sehen konnte. Ein Glücksgefühl. Meine Anspannung stieg. Seinen Namen hatte der Monte de Gozo der Tatsache zu verdanken, dass er den Pilgern einen ersten Blick auf ihr langersehntes Ziel, die Kathedrale von Santiago, gewährte. Heutzutage wird dies durch vielerlei Neubebauung erschwert. Nachdem ich das moderne
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