Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
erreichen würde. Ich schrieb in mein Tagebuch: »31. Tag meiner Pilgerschaft, 26 Kilometer, sehr gutes Essen, erfreue mich bester Gesundheit, habe ein schönes Zimmer und bin glücklich.« Obwohl es mir nicht leicht fiel, stand ich auf, zog frische Sachen an und ging in den Ort. Vor der Herberge saßen Angelika und, zu meiner großen Verwunderung, Paula. Wir redeten eine Weile, bis mir kalt wurde. Es war einer der wenigen Tage, die nicht von der Sonne verwöhnt wurden. Angelika wollte zur Kirche. Nach einem Spaziergang folgte ich ihrem Beispiel.
Nach und nach füllte sich die Kirche mit überwiegend alten Frauen. Angelika saß einige Bänke vor mir, auf der anderen Seite. Des Öfteren musste ich zu ihr schauen. Die Messe gefiel mir. Nach dem Vaterunser reichten mir einige Frauen ihre weichen faltigen Hände und wünschten »Buen camino« oder »Buen viaje«. Es war rührend. Ich war kein regelmäßiger Kirchengänger, doch die Messen auf dem Jakobsweg hatten ihre eigene Geistesrichtung. Die Kirche war für mich ein geeigneter Ort, um mich zu bedanken. Danke zu sagen, war mir sehr wichtig geworden.
Nach der Messe sprach Angelika mich an: »Mano, ich wollte dich schon lange fragen, wieso du soviel Zeit für deine Pilgerschaft aufbringen konntest, wie du mir bei unserer ersten Begegnung in San Bol gesagt hast.«
»Wenn du möchtest, können wir uns bei einem Glas Wein darüber unterhalten.«
»Einverstanden, wo gehen wir hin?«
»In dem Restaurant, wo ich heute Mittag gegessen habe, ist es ruhig und gemütlich.«
»Gut, dann lass uns auf ein Gläschen dort hingehen. Nur nicht so lange. Ich möchte morgen früh raus.«
Wir gingen zum Restaurant, fanden einen freien Tisch, bestellten Wein und eine Kleinigkeit zum Essen.
»Der Grund, weshalb ich soviel Zeit habe, ist, dass ich im Moment keine feste Anstellung habe«, begann ich das Gespräch.
»Ich finde, dass es ein schönes Gefühl sein muss, so viel Zeit zu haben.«
»Ja, das trifft für meine Pilgerschaft voll und ganz zu. Zu Hause allerdings weiß ich oft nichts mit meiner freien Zeit und mit mir selbst anzufangen. Ich bin auf der Suche nach einer Arbeit - und, im Grunde genommen, nach einem neuen Leben. Was ist mit dir? Bist du glücklich mit deinem Leben?«
»Der Alkoholismus meines Mannes ist das Kreuz, das ich mit mir trage, und das schwer auf meinem Rücken lastet. Ansonsten bin ich glücklich mit meinem Leben.«
Ich drehte meinen Kopf und schaute auf Angelikas Rücken.
»Ich sehe kein Kreuz auf deinem Rücken. Ich glaube, es ist das Kreuz deines Mannes. Du musst es nicht länger mit dir tragen. Es ist sein Kreuz.«
Angelika sah mich lange an.
»Vielleicht hast du recht«, sprach sie leise.
»Auf mich machst du einen sehr zufriedenen und glücklichen Eindruck, Angelika.«
»Ja, das bin ich im Moment auch. Ich bin sehr glücklich auf dem Camino. Es ist ein fantastisches Gefühl, morgens früh in Gottes schöner Natur aufzubrechen und seinen Weg in Ruhe und Frieden gehen zu können.«
»Das Gleiche fühle ich auch.«
»Und was machst du, wenn du in Santiago angekommen bist, Mano?«
»Ich denke, dass ich weiter nach Finisterre gehe. Vielleicht bleibe ich zwei Tage in Santiago. Dann kann ich mir in aller Ruhe die Stadt ansehen, meine müden Füße hochlegen und entspannen. Möglicherweise gehe ich anschließend runter nach Portugal. Doch das möchte ich in Finisterre entscheiden. Eventuell fahre ich nach Hause, obwohl mich dort absolut nichts hinzieht. Wenn ich nur an ...«, ich zögerte, zu Hause schien mir nicht das richtige Wort. »Wenn ich an meine Wohnung und Bad Neuenahr denke, dann habe ich nicht mehr das Gefühl, dass es mein Zuhause ist. Hier auf dem Camino fühle ich mich zu Hause. Und was machst du nach Santiago?«
»Dienstag werde ich in Santiago sein. Dann bleibe ich einen weiteren Tag und fliege Donnerstag nach Hause. Meine Arbeit ruft. Und mein Bett. Wir haben halb zehn, ich muss zur Herberge.« Angelika stand auf.
»Vielen Dank für das fruchtbare Gespräch und für deine Worte«, sagte sie lächelnd und drückte mich.
»Ja, es war ein gutes Gespräch. Ich danke dir und wünsche das Allerbeste für deinen weiteren Lebensweg.«
»Buen camino.«
Meine letzten Gedanken an diesem Tag waren bei Angelika und unserem Gespräch.
Gegen halb sieben wurde ich wach und verspürte nicht die geringste Lust, mich von meinem warmen Bett zu trennen. Dann musste ich an Santiago denken. Spätestens Dienstag würde ich mein Ziel erreichen. Ich
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