Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
ein schöner Abend mit nicht endend wollenden Geschichten über einen Weg, auf dem manch einer nicht so recht wusste, wie ihm geschah. Der Tod von Werner war in unseren Gesprächen allgegenwärtig. Nicht wenige, die sich in Portomarín aufhielten, hatten sich in der besagten Nacht in der Herberge auf dem O Cebreiro befunden und waren sichtlich betroffen. Um zehn lag ich im Bett. Unzählige Gedanken und Gefühle hielten mich lange vom ersehnten Schlaf ab.
Am Morgen signalisierte mir mein Kopf, dass ich zu viel Wein getrunken hatte. Ich war wieder mal ohne Frühstück aufgebrochen, in dem Vertrauen irgendwann auf ein Restaurant zu stoßen. Der Weg verlief nun parallel zur Landstraße. Nach zwei Stunden entdeckte ich ein kleines Gebäude, vor dem einige Rucksäcke standen. Untrügerische Anzeichen für Kaffee und Bocadillos.
In der Bar nahm ich meinen Reiseführer und realisierte, dass es bis Santiago nicht mehr weit war. Dann dachte ich nach... Wenn ich an diesem Tag 35 Kilometer ginge und am morgigen etwa genauso viel, dann könnte ich Montag in Santiago sein. Es war Samstag und ich wollte endlich mein Ziel erreichen. Ich nahm mir vor, an diesem Tag möglichst viele Kilometer zu bewältigen, zahlte und ging. Als ich meinen Rucksack auf meine Schultern hievte, stand Constantin plötzlich vor meiner Nase.
»Hallo, Mano!«
»Hallo, Constantin, du hinter mir? Normalerweise bist du doch ein Frühstarter.«
»Heute bin ich später aufgestanden, weil ich ausreichend Zeit habe. Meine Frau kommt erst in fünf Tagen nach Santiago.
Deshalb lege ich von nun an nur noch kurze Strecken zurück.«
»Das Frühstück ist gut hier, wir sehen uns bestimmt noch. Bis später.«
»Bis später, Mano.«
Mit neuer Energie wanderte ich weiter und musste ständig an Santiago denken. Widersprüchliche Gefühle tauchten auf. Eine unbeschreibliche Vorfreude auf mein langersehntes Ziel, doch auch die Gewissheit, dass meine Pilgerschaft sich dem Ende näherte. Da war ein Weg, der sich tief in meinem Herzen und meiner Seele verankert hatte. Er war mein Zuhause. Er war mein Haus. Er war mein Tisch. Er war meine Nahrung. Er war mein Bett. Er war meine Mutter. Er war mein Vater. Er war ich. Ich war der Weg. Und der Weg war ich. Ich musste an die Worte von Jesus Christus denken: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Licht. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.« Wundervolle Worte... »Ich bin der Weg, ich bin der Weg«, wiederholte ich. Ich fühlte eine tiefe Zufriedenheit. Ich fühlte, was es heißt glücklich zu sein. Und ich fühlte, dass es nicht viel bedurfte, Glück zu empfinden. Glücklich sein ..., dachte ich. Glücklich sein... was ist überhaupt... glücklich sein?... Glücklich sein ist ein Gefühl, das mich frei sein lässt von Wünschen. Wunschlos glücklich zu sein, bedeutet, dass ich alles habe, um glücklich zu sein. Und es bedeutet, dass ich keine Wünsche brauche, um glücklich zu sein. Denn wenn ich einen Wunsch habe, dann bedeutet das doch, dass mir etwas fehlt zum Glücklichsein... ein Haus, ein schönes Auto, viel Geld, eine Partnerin, Sonne, Strand, was auch immer. Und wenn ich es nicht bekomme oder es vermisse, dann bin ich unglücklich. »Ich bin glücklich«, sprach ich zu mir selbst. Ich habe absolut keinen Wunsch - außer in den nächsten Tagen in Santiagos Kathedrale zu stehen. Ich musste lachen und im gleichen Moment weinen. »Danke, lieber Gott Vater! Danke, lieber Gott. Ich danke Dir für Deine Führung und ich danke Dir, dass Du mich auf diesen einzigartigen wundervollen Weg geführt hast. Und ich danke Dir für die Begegnungen und wertvollen Gespräche.«
Ich fühlte mich frei. So frei wie ein Vogel in den Lüften. Frei wie die Möwen, die über die schäumenden Wellen der Meere fliegen und keine Steuerkarte, keinen Versicherungsausweis, kein Telefon, kein Auto und weiß-ich-was-alles brauchen. Es war nicht viel an Materiellem, was ich für mein Glück beanspruchte. Es waren andere Dinge, die mich glücklich machten. Frieden, Gesundheit, Freiheit, Zeit, die Weite und Schönheit der Natur wahrzunehmen, Bewegung in reiner Luft, einfaches Essen, das gut und nicht teuer ist, Gespräche mit offenen, ehrlichen und liebenden Menschen, die wissen, worauf es im Leben ankommt und was unwichtig ist. Dies alles hatte ich auf »meinem Camino«. Liebend gerne wäre ich für den Rest meines Lebens auf dem Weg geblieben.
Ich dachte über die Liebe nach. Wahre Liebe besitzt kein Ego, wahre Liebe fragt nicht. Wahre Liebe
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