Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
ausdrücken können: »Sei du selbst die Veränderung, die du in der Welt wünschst. « Nach dem Abendessen ging ich früh zu Bett. Ich hatte mich zuvor von Menschen verabschieden müssen, die mir viel gegeben hatten und die ich vermissen würde. Den einen oder anderen würde ich in Finisterre wiedersehen. Als ich im Bett lag, nahm ich meine differenzierte Gefühlswelt wahr. Gefühle des Glücks wie der Trauer wegen der Abschiede vermischten sich in meinem Innern. Selten in meinem Leben sind mir so viele Menschen begegnet, zu denen ich in relativ kurzer Zeit tiefe Gefühle der Freundschaft und Liebe entwickelt hatte.
»Es gibt keinen Weg zum Frieden, denn Frieden ist der Weg.«
Mahatma Gandhi
15 Ancora am Ende der Welt
Ich war froh, mich wieder auf den Weg machen zu können. Die Tage in Santiago waren schön, waren außergewöhnlich gewesen, doch fühlte ich, dass es an der Zeit war, weiterzugehen. »Mi grande amigo Manolo«, klang in meinem Ohr. Mi grande amigo Santa Papa Brasil, werde dich wahrscheinlich nie wiedersehen. Wir waren Freunde geworden. Und ich schätzte mich glücklich, solch einen wundervollen Menschen meinen Freund nennen zu dürfen. Schnell hatte ich meine Sachen zusammengepackt und startete auf einen neuen, mir unbekannten Weg. Mein Pilgerziel Santiago hatte ich erreicht und meine Pilgerschaft somit beendet. Der Weg nach Finisterre hatte für mich nicht mehr den Charakter einer Pilgerschaft. Die gelben Pfeile führten mich an der Kathedrale vorbei stadtauswärts. Mir kam es vor, als hätte ich nicht nur zwei Tage, sondern eine Ewigkeit in Santiago verbracht. Es dauerte nicht lange, bis mich ein üppiges waldiges Grün in sich aufnahm.
Nun befand ich mich auf dem Weg zum Meer. Wie oft schon hatte ich auf meinen zahlreichen Flügen nach La Palma, Teneriffa und Gran Canaria unter mir Spanien, Portugal und die Küste bewundert? Ich war jedes Mal fasziniert gewesen von dem Anblick und liebte es, aus gigantischer Höhe die Wolken, das Firmament und die Erde zu betrachten. Nun durchwanderte ich dieses Land. Galicien war mir wohlgesonnen. Die Sonne strahlte von einem nahezu wolkenfreien Himmel. Ich mochte den Geruch der Eukalyptuswälder und das Alleinsein. Über den Fluss Tambre führte mich eine selten schöne Brücke nach Ponte Maceira, einem Vorzeigeort, der mitten in der Natur zum Verweilen einlud. Ich ließ mir Zeit, genoss die wärmenden Sonnenstrahlen und die friedliche Stimmung. Ich musste an Bernd, Yajaira, Brigitte und Rainer denken. Ob ich sie wohl in Finisterre wiedersehen werde? In Santiago hatte ich vergebens Ausschau nach ihnen gehalten.
Schweren Herzens löste ich mich von dem reizenden Anblick der Landschaft, wanderte weiter durch kleine Wälder auf schmalen Pfaden, zwischen Wiesen und Weiden, sang meine Lieder und ignorierte meine Blasen. Ich fühlte mich gut, die anfängliche Müdigkeit war einer Frische gewichen. Irgendwann erreichte ich einen Ort, dessen Name mir unbekannt war. Vor einer Bar entdeckte ich zwei Pilger, zu denen ich mich an den Tisch setzte. Ich bestellte einen Kaffee und ein Glas Wasser. Im Gespräch mit den Pilgern stellte ich fest, dass ich bereits mein angestrebtes Tagesziel, Negreira, erreicht hatte. Obwohl es noch früh war, reichten mir 23 Kilometer, zudem es bis zur nächsten Herberge noch 34 Kilometer gewesen wären. So legte ich die letzten Kilometer bis zur Herberge, die sich außerhalb von Negreira befindet, zurück. Lediglich zwei Pilger fand ich in der Herberge, die gut war, vor. Nach der Dusche ging ich zum Frisör, der meine Haare sehr kurz schnitt und mir auf meinen Wunsch hin den Bart entfernte. So geschoren kam ich mir fremd vor. Negreira war eine unspektakuläre Kleinstadt. Nachdem ich mir für die nächste Etappe Bananen, Schokolade und Kekse gekauft hatte, ging ich zur Herberge, wo Michael mich begrüßte: »He! Mano! Schön dich zu sehen.«
»Hallo! Michael, wie geht’s?«
»Mir geht es gut, wie sieht es bei dir aus?«
»Der Start heute morgen war mühsam, doch dann lief es wie geschmiert.«
»Das ist Nicola«, stellte er mir eine junge hübsche Deutsche vor. Wir setzten uns vor die Herberge und redeten über die Tage in Santiago. Früher als gewohnt legte ich mich ins Bett.
Um sechs stand ich auf, hatte Schwierigkeiten, mich im Dunkeln zurechtzufinden, und benutzte zum ersten Mal meine Taschenlampe. Zwanzig Minuten brauchte ich, um startklar zu sein, verabschiedete mich von Nicola und Michael und begrüßte einen frischen
Weitere Kostenlose Bücher