Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
auf den Weg zur Kathedrale, der wir zu huldigen beabsichtigten. Mittlerweile war es nach Mitternacht. Arm in Arm gingen - oder tänzelten wir durch die Altstadt und sangen lauthals »Glory Glory Halleluja«. Vor der Kathedrale bildeten wir einen Kreis, steckten unsere Köpfe zusammen und drückten einander. Santa Papa Brasil verabschiedete sich als erster, weil er am nächsten Tag weiter nach Portugal, Fatima reisen wollte. Er nahm mich in seine Arme und drückte mich ganz fest: »Mi grande amigo Manolo«, waren seine letzten Worte. Ich wünschte ihm alles erdenklich Gute und sah einen Menschen von mir gehen, den ich lieb gewonnen hatte. Sehr lieb gewonnen hatte. »Santa Papa Brasil, ich werde dich nie vergessen, lebe wohl.« Allen fiel der Abschied von dem fröhlichen Brasilianer besonders schwer. Bei diesem Abschied tropften reichlich Tränen auf das Kopfsteinpflaster von Santiago. Der Rest der Pilgerfamilie ging auf ein letztes Glas in eine Bar. Für den nächsten Tag verabredeten wir uns.
Als ich in meinem Bett lag, lief noch einmal der vergangene Tag vor meinem inneren Auge ab. Ein Tag, der sich tief in mir einprägen sollte. Leider war es auch ein Tag der nicht alltäglichen Abschiede. Nicht nur der von Santa Papa Brasil.
Ungewöhnlich früh wurde ich wach, nahm eine heiße Dusche und spazierte durch das langsam erwachende Santiago. Ich liebte diese Stadt, die etwas Spezielles in sich bewahrte, dass ich nicht so recht zu benennen im Stande war. Vielleicht war es die Spiritualität und Liebe, die Millionen von Pilgern und auch Touristen ihr gaben. Ich dachte darüber nach, dass Gebete, Demut und Ehrerbietung, Orte prägen. Santiago de Compostela. Ich würde wiederkommen, da war ich mir sicher.
Einen Tag wollte ich noch bleiben und dann nach Finisterre wandern, zum Ende der Welt. Das muss ein ganz besonderer Ort sein. Selbst manch ein Römer suchte Finisterre auf, wenn ihm bewusst war, dass sein Leben sich dem Ende neigte, um dort zu sterben, weil er glaubte, vom Ende der Welt schneller, auf direktem Wege in den Himmel zu gelangen. Vielerlei Spuren keltischen Lebens, wie ich gelesen hatte, und spezielle Steinformationen warteten ebenfalls auf mich.
Ich ging in ein Café und ließ mir ein kleines Frühstück servieren. Wilma und Javier, die sehr bedrückt wirkten, leisteten mir wenig später Gesellschaft. Es war unschwer zu erraten, dass der Grund ihr bevorstehender Abschied war. Nie zuvor in meinem Leben habe ich so viele Menschen weinen gesehen wie in Santiago. Unzählige Tränen des Glücks und Tränen des Schmerzes verschleierten den Sternenhaufen. Ich fühlte mit den beiden. Niemand sprach, wie in Zeitlupe trank ein jeder an seinem Kaffee und steckte sich hin und wieder ein Stück Croissant in den Mund. Weil ich die bedrückende Stimmung nicht länger mit ansehen konnte und die beiden vermutlich auch gerne alleine sein wollten, zahlte ich und verabschiedete mich von Javier. Wilma würde ich später noch sehen. Die Kathedrale war bis auf den letzten Platz gefüllt. In einer der vorderen Reihen entdeckte ich Andrea, der mir mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass neben ihm noch ein Platz frei sei.
Als die Schwester mit ihrer Engelsstimme ein Lied über den Camino anstimmte, sah ich viele nach ihren Taschentüchern greifen. Sie schämten sich ihrer Tränen nicht. Warum auch? Es sind ganz normale Gefühle. Menschen, weint, dachte ich, wenn ihr Traurigkeit in euch fühlt, weint endlich wieder, schreit endlich eure Schmerzen und euer Leid in die Welt, um wieder aus Liebe weinen zu können. Schreit, schreit eure Seelenqualen von falschem und ungelebtem Leben heraus, schreit es heraus, lasst euren Gefühlen endlich wieder ihren natürlichen Lauf. Nehmt eure Maske, eure Fesseln ab. Sprengt eure seelischen Fesseln. Sprengt die Ketten des falschen Glaubens. Legt eure Wünsche und Erwartungen endlich ab, die euch nicht glücklich machen. Die euch von eurem wahren Glück trennen. Kehrt zurück zur Liebe. Kehrt zurück zu euren Nachbarn. Gebt ihnen Brot und richtet keine Mauern zwischen ihnen und euch auf. Reißt alle Mauern der Angst und der Sorge nieder. Lebt in friedvoller Gemeinsamkeit und isoliert euch nicht. Ein jeder braucht den Anderen. Ein jeder braucht einen Freund, der ihm in Leid und Not beisteht. Und der die Freuden mit euch teilt. Der an eurem Leben teilnimmt. Und hört auf, euch von negativen Äußerungen eurer Mitmenschen, die keinerlei Berechtigung haben, runterziehen zu lassen. Hört den
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