Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
Pessimisten nicht mehr zu. Pessimismus ist verkleidete Angst. Denkt an eure Kinder und Enkelkinder, die bewusst oder unbewusst von den negativen Einflüssen berührt werden. Unsere Kinder sind der Reichtum unseres Lebens, sie sind wundervoll und voller Liebe. Sie sind feinfühlig und so sehr auf uns angewiesen, weil sie lange brauchen, um auf eigenen Beinen durchs Leben gehen zu können. Wir haben ihre Welt gestaltet und wir gestalten sie weiter. Möchtet ihr, dass unsere Nachkommen auf einer Erde leben, wie sie sich uns heute darbietet? Möchtet ihr das? Haben sie nicht, wie auch wir, eine bessere, friedlichere Welt verdient? Sind wir es nicht wert, in einer Welt zu leben, in der wir einander lieben, unterstützen und gemeinsam die Dinge genießen können, die uns in reicher Vielfalt von einem großzügigen Gott gegeben wurden? Sind wir es nicht wert? Warum sind wir so undankbar und zerstören all diese Wunder? Die wundervollen Urwälder, die Tiere, Pflanzen, das kostbare Wasser, die wunderbare Luft. Warum? Wacht endlich auf, hätte ich am liebsten in die Kathedrale heraus geschrieen. Wacht doch bitte, bitte auf. Es geht, wir sind in der Lage friedlich miteinander zu leben. Der Jakobsweg zeigt vielen auf, dass unterschiedlicher Glaube, Nationalität, Hautfarbe oder eine andere Sprache keine Gründe für Trennung sind, sondern die Menschen sogar verbinden können - ja müssen, in Zukunft. Wenn die Menschen erkannt haben, dass sie es wert sind, dass alle es wert sind, glücklich in Frieden zu leben - dann - ja, dann leben alle in paradiesischen Zuständen. Alle!
Die Messe kam mir ungewöhnlich lange vor. Vielleicht lag es an meinen vielen Gedanken. Nach dem Gottesdienst ging ich auf mein Zimmer, legte mich ins Bett und schlief ein. Bis zum späten Nachmittag schlief ich, blieb noch einige Minuten liegen, zog mich an und spazierte zur Bar, wo wir für den Abend verabredet waren. Michael, Tanja, Andrea, Pat, Wilma und zu meiner freudigen Überraschung auch Meike saßen vor der Bar und unterhielten sich angeregt in Deutsch und Englisch. Ich gesellte mich zu ihnen und versuchte den zweisprachigen Konversationen zu folgen. Tanja wollte am nächsten Tag mit dem Bus nach Finisterre fahren, Michael das Ganze gehend bewältigen, Andrea hatte sich eine Fahrkarte für den Zug nach Pamplona gekauft, Meike war mit ihrem Ehemann in Santiago verabredet, der am morgigen Tag eintreffen würde, und Wilmas Flug war ebenfalls für den nächsten Tag gebucht.
Plötzlich sprang Michael auf: »Norman! Norman! Norman!« Alle warfen die Köpfe herum. Norman sah einfach klasse aus. An seinem Rucksack befand sich eine englische Fahne, er selbst trug ein T-Shirt aus seinen College-Zeiten. Michael fiel ihm um den Hals. Wir sprangen auf und bildeten eine Menschentraube um unseren englischen Freund, der ebenfalls sein Ziel erreicht hatte. Stolz strahlte aus seinen Augen. Er setzte sich zu uns an den Tisch. Natürlich begoss er, wie es sich für einen englischen Pilger gebietet, seinen Erfolg mit einem großen kühlen Hellen.
Die Stimmung erreichte einen Höhepunkt, als Norman sein Musikrepertoire zum Besten gab. Wir genossen unser Zusammensein und Zusammenhörigkeitsgefühl. Gemeinsames verband uns. Wir waren Pilger, hatten dasselbe Ziel, hatten es erreicht und die Erfahrung gemacht, dass alle Menschen gleich sind. Der Jakobsweg war und ist eine außerordentlich wertvolle Schule für die Menschheit. Eine Schule, die alle, die sich ihr öffnen und anvertrauen, auf eine wert- und wundervolle Weise unterrichtet. Auch diejenigen Pilger, die es nicht wahrhaben wollen, oder denen es nicht bewusst ist, profitieren von ihr und nehmen etwas für sich und ihr Leben mit. Die Erfahrungen vom Camino würden noch lange nachwirken, fühlte ich. Es sind Lehren, die uns bis zum Ende unserer Leben begleiten werden.
Mir wurde wieder deutlich vor Augen geführt, dass wir die Pilgerschaft nicht ausschließlich für uns selbst absolvieren. Das, was die Pilger auf dem Jakobsweg lernen, entdecken und klären, kommt auch ihren Freunden, Familien, Kindern, Eltern und allen Menschen zugute. Ja, wenn man es so will, verändert es die ganze Welt! Jeder, der in und für sich Dinge klärt, klärt es für alle, verändert sich und gleichzeitig ein kleines Stück unserer Welt. Er trägt zum Weltfrieden bei. Er trägt zur Weltenliebe bei. Ausnahmslos jeder, der Liebe in sich entwickelt, entwickelt sie auch für seine Mitmenschen. Mahatma Gandhi hätte es treffender nicht
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