Ein Ort für die Ewigkeit
erkennen, kam doch die Leidenschaft und Wachsamkeit des Jungen plötzlich wieder auf, als er über seine Entdeckung sprach.
»Als meine Mutter an dem Morgen zu mir kam und sagte, sie hätten mich verlangt, um eine alte Bleimine im Scardale Crag zu finden, war ich sprachlos. Ich konnte nicht glauben, daß es einen solchen Ort gab, ohne daß ich davon wußte. Ich hatte mein ganzes Leben in dem Tal gelebt, und niemand hatte je davon gesprochen. Ich hätte schwören können, daß ich jeden Zentimeter von Scardale kannte.
Nur weil man an einem Ort wohnt, bedeutet das ja noch nicht, daß man ihn gut kennt. Nehmen Sie meinen Cousin Brian. Er kennt wahrscheinlich jeden Grashalm auf seinen Kuhweiden. Er kennt jeden Schritt auf dem Weg von seinem Haus bis zum Kuhstall, jeden Zentimeter bis zu seinem Lieblingsplatz zum Angeln am Scarlaston. Aber das ist alles, was er kennt. Er hatte nie den Trieb, etwas zu erforschen. Ich dagegen schon. Als ich noch ein Kind war, verbrachte ich die ganze Zeit, wenn ich nicht in der Schule oder bei der Arbeit war, draußen in den Wäldern und Feldern. Als ich zum ersten Mal den Berg hochkletterte, war ich erst sieben. Ich lief zweimal die Woche den Shield Tor hoch, nur zum Spaß. Ich liebte jeden Zentimeter des Tals.«
Einen Augenblick war sein Gesicht verschlossen, als er wieder an den Orten war, die er hinter sich gelassen hatte. »Es fehlt mir«, sagte er unvermittelt. Dann klärte sich sein Gesicht auf, und er kehrte zu den Erinnerungen zurück.
»Also, verstehen Sie, ich konnte nicht begreifen, wieso die Bleimine existieren konnte, ohne daß ich davon wußte. Aber zu dieser Zeit waren wir alle ratlos. Unserer Meinung nach lohnte sich jedes Risiko, Ali zu finden.
Als ich den Eingang fand, war ich fassungslos. Ich war nie zuvor so weit um den Fuß des Berges herumgegangen. Im Sommer war es zu dicht zugewachsen, und im Winter sah es aus, als sei der Weg wegen heruntergefallener Felsbrocken unpassierbar. Eigentlich war es aber nicht schwer, hinaufzuklettern, und die Mine war tatsächlich genau an der Stelle, die das Buch angab.
Noch merkwürdiger war, daß jemand anders Scardales Geheimnis aufgedeckt hatte, während es mir nicht gelungen war. Diese Erkenntnis, daß mein Wissen so unvollständig war, beunruhigte mich zutiefst. Ich verlor das Vertrauen in mein eigenes Urteil, und das erschütterte mich wirklich.
Aber komisch, es ist mir im Lauf der Jahre zustatten gekommen. Auf Geschwafel falle ich nie herein. Ich hüte mich immer vor den Schönrednern. Ich weiß jetzt, daß es möglich ist, jemanden, den man jeden Tag sieht und zu kennen glaubt, völlig falsch zu beurteilen. Deshalb ist es verrückt, zu glauben, man könnte jemanden kennen, wenn man ihn ein paarmal getroffen hat. Es ist also etwas Gutes herausgekommen aus der Geschichte mit Ali, auch wenn ich es damals nicht geglaubt habe.«
Er strich sich mit der Hand übers Kinn. »Aber eines kann ich Ihnen sagen. Ich würde mich gern mit einem miesen Urteilsvermögen zufriedengeben, wenn Ali nur noch leben würde.«
Was die Hintergrundinformationen über die Mitspieler im Drama betraf, waren die Gespräche mit Charles viel weniger ergiebig als die mit Kathy oder Janet. Er lächelte bedauernd. »Ich lebte immer etwas in mich selbst zurückgezogen«, sagte er. »Ich erzählte mir immer selbst Geschichten, erfand alle möglichen Pläne, wie ich aus Scardale fliehen und die Welt verändern würde. Und was die Beziehungen zwischen Erwachsenen angeht – sie waren mir ein Rätsel. Ich wußte nur, daß ich nicht wollte, was alle in Scardale wollten.«
Er holte tief Luft und sah Catherine in die Augen. »Ich mußte nach London kommen, um den Grund dafür herauszufinden. Ich bin schwul, verstehen Sie. Ich hatte nie einen Namen dafür in all den Jahren, als ich erwachsen wurde. Ich wußte nur, ich war anders. Sie sehen also, ich bin nicht der Richtige für die Frage, ob ich etwas Seltsames an Ruths und Phils Beziehung bemerkt hätte.« Er lächelte. »Ich fand alle Beziehungen der Leute reichlich seltsam.«
7
Mai 1998
A ls Catherine mit einem Gin Tonic im oberen Stock des
Lamb and Flag
in Covent Garden saß, klingelte ihr Handy. »Catherine Heathcote, hallo?« sagte sie und betete, daß es nicht Don Smart war, der anrief, um sein Interview abzusagen.
»Catherine? Hier Paul Bennett. Dad hat mir gesagt, daß Sie in London sind, stimmt das?«
»Ja, ich bin für ein paar Tage hier unten, um mit einigen Leuten über das Buch zu
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