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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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Gelegenheit, sich bei ihm einzuschmeicheln, indem sie ihm gegenüber Cécile Barrois schlechtmachte, über die er selbst Zweifel geäußert hatte.
    »Ich glaube, sie hat wirklich ein Problem. Melanie hat mir gesagt, in ihrer Klasse herrsche ständig Radau. Sollte man nicht der Schulbehörde Bescheid geben?«
    »Mmmmja«, antwortete Monsieur Montoriol träge. »So etwas entscheidet man nicht leichtfertig.«
    »Ich sage das nur wegen des Rufs der Schule«, erwiderte Marie-Claude verkniffen. »Schon die Invasion der Baoulés hat bei den Eltern wenig Begeisterung ausgelöst …«
    »Du weißt genau, dass wir sie brauchen«, unterbrach sie ihr Direktor.
    Ohne Marie-Claude recht geben zu wollen, beschloss Georges Montoriol, eine kleine Untersuchung durchzuführen: War Cécile Barrois mit ihren Erstklässlern überfordert oder nicht?
     
    An einem Donnerstag vertraute er seine eigene fünfte Klasse Alphonse Baoulé an. Das war sein Trick: Anstatt den Klassenersten für die Disziplin verantwortlich zu machen, suchte er sich dafür den Klassenclown aus.
    »Ich muss zehn Minuten weg, Alphonse, ich verlasse mich auf dich. Wenn jemand sich erlaubt, den Dummkopf zu spielen, schreibst du ihn an die Tafel.«
    Alphonse setzte sich mit übertrieben strengem Gesicht auf den Platz des Lehrers. Monsieur Montoriol überquerte den Hof und ging leise zur Tür der ersten Klasse. Er lauschte. Totenstille. Leicht beunruhigt legte er das Ohr an die Tür. Es war ihm, als höre er nur Céciles Stimme. Er wollte sich Klarheit verschaffen. Er klopfte zweimal kurz, um niemanden zu erschrecken, und trat ein.
    »Entschuldigen Sie«, sagte er und suchte sich den erstbesten Vorwand, »haben die Kinder die Formulare für den Schulverein bekommen?«
    Die Kleinen saßen in einer Ecke des Raumes auf dem Boden. Es war gerade Zeit für die Abenteuer von Kicko-Kack Hase. Robin nahm schnell den Daumen aus dem Mund. Cécile wurde rot, als sei sie bei einem Fehler erwischt worden.
    »Die … Die Formulare … ja, ich, nein … Die habe ich noch nicht verteilt. Ist es eilig?«
    »Nicht allzu sehr.«
    Georges trat mit breitem Lächeln näher.
    Das war also der ständige »Radau«?
    »Was tun Sie mit ihnen, damit sie so brav sind?«
    Er schien die Frage auch an die Kinder zu richten.
    »Sie erzählt uns Geschichten«, riefen mehrere von ihnen.
    »Meldet euch, meldet euch«, tadelte Cécile sie sanft.
    Der Direktor billigte es mit einem Nicken. Er musterte die Zeichnungen an den Wänden, die höchst künstlerischen von Robin und die fast autistischen von Steven, und dann den Text des Tages, der an der Tafel stand:
Raban, der Rabe, raubt Reis. Tino ruft: Rettet den Reis!
Danach folgte eine Reihe von Silben:
ra re ri ro ru.
Georges’ Lächeln wurde breiter, während er dachte: »Silbenmethode. Nicht gerade revolutionär, die junge Dame.«
    »Was steht an der Tafel?«, fragte er.
    Alle Finger gingen hoch, der von Marianne als letzter. Gepackt von Ines’ funkelnden Augen nahm Monsieur Montoriol sie dran. Sie las vor und wurde beim Ausrufezeichen lauter, wie Cécile es empfohlen hatte.
    »Sehr schön«, sagte Georges. »Arbeitet weiter so ordentlich.«
    Cécile begriff, dass das Kompliment auch an sie gerichtet war, und sie spürte etwas sehr Tiefes in ihrem Herzen. Papa.
    »Denken Sie an meine Formulare?«, erinnerte Georges sie.
    Dann kehrte er summend in sein Klassenzimmer zurück, wo Alphonse schon die Hälfte der Namen an die Tafel geschrieben hatte.
    »Gut gemacht«, sagte Monsieur Montoriol bewundernd.
    »Das sind alles Schingel, Monsieur Montoriol!«
    Die Schüler fingen an zu lachen, und Georges schüttelte Alphonse an der Schulter.
    »Auf deinen Platz, Freundchen!«
     
    In der Klasse von Cécile nahmen ebenfalls alle unter lautem Stühleschieben, Mäppchenrunterschmeißen und Beinestellen wieder ihre Plätze ein. Bevor Cécile mit den Schülern Schreiben übte, ließ sie sie ein paar Bewegungen machen, um den Rücken zu lockern und die Handgelenke zu entspannen.
    »Tom, das ist kein Karate!«
     
    Die Tage vergingen. Tom war nicht mehr so empfindlich, Maeva hatte weniger Angst, Robin weinte nicht mehr so viel, Steven war sauberer, Baptiste immer noch wechselhaft. Sie beugte sich über ihn: »Verkrampf dich nicht so mit deinem Stift. Denk ans Atmen.«
    Démor streckte beim Schreiben die Zunge heraus, Ines runzelte die Stirn, Steven seufzte. Sie bemühten sich. Sie litten. In diesen Augenblicken mochte Cécile sie noch mehr. Sie ging durch die

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