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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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Reihen.
    »Das ist gut, Floriane. Nicht träumen, Marianne … Aufgepasst, Steven, dass du immer dem kleinen Weg folgst. Bravo, Vincent!«
    Der kleine Chinese hob nicht einmal die Nase von seinem Heft, um nicht von seiner Konzentration abzulassen.
    »Madame, deht das so?«, fragte Audrey und streckte Cécile ihr Heft hin.
    »Das ist perfekt.«
    Cécile zögerte, dann ging sie in die Knie, um auf gleicher Höhe mit Audrey zu sein. Audrey war ein rundliches Mädchen, mit runden Wangen, rundem Kinn, rundem Bauch und runden Schenkeln. Sie war überall dick verpackt, so wie die Schokoladensüßigkeiten, mit denen sie sich vollstopfte.
    »Es heißt ›geht‹. G, g, geht. Es geht. Versuch es.«
    »Es … geht.«
    »Ja. Und das hier ist ein …«
    Aus der Vertiefung der Tischplatte nahm Cécile einen Kugelschreiber.
    »Ein Tuli.«
    Cécile seufzte.
    »Gib mir dein Mitteilungsheft, Audrey. Ich schreibe eine Nachricht für deine Eltern. Die bringst du mir morgen unterschrieben zurück.«
    Die Kleine musste dringend zum Logopäden geschickt werden, oder sie würde in die Legasthenie-Hölle absteigen.
     
    Wie jeden Tag kam Audrey allein nach Hause. Ihr Bruder Brandon, der schon aus der Schule zurück war, hatte sich in sein Zimmer verzogen. Madame Cambon kam spät vom Auchan-Supermarkt nach Hause, wo sie als Kassiererin arbeitete, und Monsieur Cambon kam noch später. Audrey hätte sich allein gefühlt, hätte sie nicht den Fernseher gehabt. Um neunzehn Uhr hatte sie sich durch
Cousin Skeeter
,
Titeuf
und
Braceface
gezappt und machte sich jetzt daran, auf TF 1 zum Millionär zu werden.
    »
Na, in Form, Maryline? Für 200  Euro lautet die Frage: Wer hat früher die Schüler in die Ecke gestellt:
    der Grundschullehrer
der böse Wolf
der Dorfbürgermeister
der Feldhüter
«
    Audrey, die sich an eine Geschichte mit einem Zicklein erinnerte, das in einer Ecke angebunden und dann vom Wolf gefressen worden war, entschied sich für Antwort b).
    »Der Grundschullehrer – sind Sie sich sicher?«
, fragte der Moderator.
»Ist das Ihr letztes Wort, Maryline?«
    Gleichzeitig mit der Kandidatin antwortete Audrey: »Das ist mein letztes Wort, Jean-Pierre.«
    Die Wohnungstür war zu hören. Es war Madame Cambon, die sich mit den schweren Einkäufen plagte.
    »Schon wieder vor dem Fernseher«, war ihre erste Bemerkung.
    Dann: »Hast du deine Hausaufgaben für morgen gemacht?«
    »Aber die Lehrerin dibt uns doch teine!« antwortete Audrey und tat, als fände sie das schade.
    »Keine Hausaufgaben, keine Noten, was ist das für eine Schule?«, brummte Madame Cambon und ging in die Küche.
    Zu ihrer Zeit wurde man noch in die Ecke gestellt. Und das Spiel ging weiter: »
Es geht um 1500 Euro, Maryline, und die Frage lautet: Im Gegensatz zum Hirsch hat die Hirschkuh
    keine Hufe
kein Fell
keine Ohren
kein Geweih
«
    Wieder war die Wohnungstür zu hören. Monsieur Cambon kam an diesem Abend früh nach Hause.
    »Du bist schon da?«, fragte Audrey verwundert.
    »Du bist schon da, du bist schon da?«, äffte er sie nach. »Glaubst du, es macht Spaß, bei Fillmane Brillen zu verkaufen?«
    Seine Frau erschien wieder im Wohnzimmer.
    »Ach, du bist’s. Du bist schon da?«
    »Sagt nur, wenn ich wieder gehen soll«, knurrte Monsieur Cambon.
    »Ich meine nur, das Abendessen ist noch nicht fertig.«
    Monsieur Cambon verkündete, er würde bis dahin noch Zeitung lesen. Er setzte sich aufs Sofa und überflog die Fernsehzeitschrift. Audrey fiel die Nachricht der Lehrerin ein, und sie brachte ihrem Vater das Mitteilungsheft. Cécile hatte geschrieben:
Wenn Audrey nicht von einem Logopäden behandelt wird (falsche Lautbildung), wird sie große Schwierigkeiten beim Lesenlernen haben. Bitte setzen Sie sich mit Ihrem Hausarzt in Verbindung, damit er Ihnen die Therapie verschreibt.
    »Immer noch diese Geschichte!«, ereiferte sich Monsieur Cambon. »Ist diese Lehrerin nicht in der Lage, dir Lesen beizubringen? Wozu bezahlen wir die eigentlich?«
    Audrey verzog sich in die Küche und hielt das Heft ihrer Mama hin.
    »Musst unterschreiben«, flehte sie.
    »Immer, wenn ich die Hände im Salat habe«, sagte Madame Cambon seufzend. »Ist es wenigstens keine Strafarbeit?«
    Langsam las sie die Mitteilung, während sie sich die Hände abwischte.
    »Was mischt die gute Frau sich ein?«, brummte sie.
    Dann wandte sie sich ihrer Tochter zu: »Ich hab auch nicht leicht gelernt. So ist das eben. Wir sind nicht gut für die Schule.«
    Tränen traten Audrey in die Augen. Ihre

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