Ein Ort wie dieser
Toussaint einen dicken Kuss geben würde?
Gerade an diesem Vormittag hatte Cécile eine Überraschung für Eglantine: »Mein Bruder kennt deinen.«
Das Mädchen, das gerade mitten in einer Aufgabe versunken war, hob den Kopf zur Lehrerin.
»Mein Bruder geht mit deinem in dieselbe Klasse.«
Eglantines Gesicht drückte nichts anderes aus als Unverständnis. Cécile musste genauer werden: »Mein Bruder Gil geht im Benjamin-Franklin-Gymnasium in die zehnte Klasse. In die Klasse von deinem Bruder Emmanuel.«
»Ich habe keinen Bruder Emmanuel«, antwortete Eglantine, fast ratlos.
»Ach? Du … du hast keinen Bruder?«, stammelte Cécile.
Die Kleine schien zu zögern: »Doch. Aber er ist groß.«
»Und er heißt nicht Emmanuel?«
»Nein. Er heißt Eloi.«
Blitzartig sah Cécile den seltsamen Jungen mit dem Käppi vor sich und musste sich auf den Stuhl ihrer Schülerin stützen, so weiche Knie hatte sie plötzlich. Eloi war ein äußerst seltener Vorname. Der Angestellte im Tchip Burger war ganz bestimmt Eloi de Saint-André. Gil sah ihn regelmäßig und verheimlichte ihr das. Warum?
»Das macht nichts, Eglantine«, murmelte Cécile. »Da muss ich mich im Namen getäuscht haben.«
Als sie wieder an ihrem Tisch saß, begann sie, in ihrer Schublade zu suchen. Sie hatte den Zettel mit den Angaben, den der Lehrer der benachbarten Vorschule zu einigen ihrer Schüler gemacht hatte, in eine Mappe geheftet. Sie wollte noch einmal lesen, was er über Eglantine geschrieben hatte.
Eglantine de Saint-André: Kann schon lesen. Zu verwöhnt. Großes Drama mit älterem Bruder (keine genaueren Informationen).
Eloi wurde immer geheimnisvoller. Besorgniserregend.
An diesem Tag hatte Cécile Pausenaufsicht, und Georges Montoriol gesellte sich zum Plaudern zu ihr.
»Ich weiß ja nicht, was seine Frau davon halten würde«, bemerkte Chantal Pommier halblaut, als sie die beiden durch das Fenster des Lehrerzimmers beobachtete.
Denn man sah den Direktor immer häufiger in Begleitung der jungen Frau. Beide sprachen über die Baoulés. Cécile hatte ihren Direktor über die Verhältnisse informiert, in denen die Kinder lebten, die acht Kilometer Weg, den besetzten Bahnhof, die mangelnde medizinische Versorgung und den Mangel an Kleidung.
»Haben Sie die Daunenjacke von Démor gesehen?«, bemerkte Georges. »Er schwitzt darin Blut und Wasser und gleichzeitig schlottert Alphonse. Er weigert sich, seine Strickjacke anzuziehen, weil sie Knöpfe hat und er damit angeblich aussieht wie ein Mädchen …«
»Die Zwillinge sind heute bis auf die Knochen durchnässt hier angekommen«, fügte Cécile noch hinzu.
»I’m singing in the rain«
, summte Georges, dessen Fröhlichkeit nichts erschüttern konnte. »Also gut, wir müssen den Kindern was zum Anziehen besorgen, liebe Cécile.«
Die liebe Cécile errötete.
»Omchen hat die Schränke der Klassenzimmer durchgesehen«, fuhr er fort. »Sie hat zwei Regenjacken, ein Sweatshirt und einen Jogginganzug gefunden, die letztes Jahr in der Schule liegengeblieben sind. Wir werden Honorine, Victorine, Toussaint und Alphonse ausrüsten.«
»Ich kann mich mit Nathalie in Verbindung setzen, der Frau von dem Verein. Sie hat mir ihre Karte gegeben.«
»Sehr gut. Machen wir eine Liste mit allem, was wir brauchen.«
Sie setzten sich auf eine Bank und notierten: »Schuhe für Leon, Regensachen für Prudence und Pélagie, eine Windjacke für Démor …«
Während sie die Vornamen aufschrieben, informierten sie sich gegenseitig über den jeweiligen Charakter der Baoulé-Kinder und ihre kleinen Geheimnisse.
»Ach ja? Toussaint ist in Eglantine verliebt?«, kommentierte Georges amüsiert. »Beruht das auf Gegenseitigkeit?«
»Sie schreibt ihm kleine Liebesbriefchen, aber ich muss sie ihm vorlesen …«
Georges lachte jungenhaft. Dann wurde er nachdenklich.
Mit einer ausladenden Geste zeigte er über den Hof.
»Wo bitte, an welchem anderen Ort Frankreichs, kann man eine solche Ansammlung unterschiedlicher Menschen finden? Arme und Reiche, Kinder aller Art aus so vielen Ländern, mit so unterschiedlichen Geschichten, die an Gott, an Jehova, an Allah glauben oder die an nichts glauben, wie der Ungläubige, der gerade mit Ihnen redet? Und alle spielen zusammen, sie lernen Seite an Seite und verbrüdern sich. Gibt es einen anderen Ort, an dem Eglantine de Saint-André eine Chance hätte, Toussaint Baoulé zu begegnen und ihn zu lieben?«
Es klingelte, und das Klingeln unterbrach die
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