Ein Ort wie dieser
Sechs: Er nahm ihn mit nach Hause.
»Zwei, drei, zwei, fünf, verdammt, vier, sechs … Los, Kleiner, wir gehen.«
Als Nathalie nach ihrem Nachtdienst in die Rue Jean-Jaurès zurückkam, sah sie Eloi, der zwar schlief, aber halb aus dem Bett geworfen war. Ein kleiner schwarzer Junge nahm den ganzen Platz neben dem Kopfkissen ein.
»Ja, was ist das denn!«, rief Nathalie.
Eloi wurde wach und sagte blinzelnd: »Fröhliche Weihnachten!«
Als Leon aufwachte, rollte er erst verschreckt die Augen, dann richtete er sich auf und rief: »Mimami!«
Er sah Nathalie am Fußende des Bettes.
»Bist du ein kleiner Baoulé?«
Leon erkannte sie wieder. Das war die Frau von dem Verein. Sie erinnerte ihn an Omchen, sie sah nicht nett aus, aber im Grunde war sie es.
»Du bist vom Bahnhof abgehauen, was?«
Leon nickte. Er war abgehauen, um alle zu retten.
»Mama will sich aus dem Fenster stürzen«, sagte er.
Eloi kam herein und trug ein Tablett voller leckerer Sachen, die Leon ein paar Sekunden die Dringlichkeit der Situation vergessen ließen.
»Da, iss«, sagte der junge Mann. »Hier darf man mit vollem Mund reden.«
Leon konnte sich nicht zwischen der Rosinenschnecke und dem Schokoladencroissant entscheiden und stürzte erst das Glas Orangensaft hinunter. Er kam um vor Durst. Nathalie wurde bereits ungeduldig: »Warum hat deine Mama gedroht, sich aus dem Fenster zu stürzen?«
»Das ist wegen dem Humanitä’«, antwortete Leon und biss in das Schokoladencroissant.
Die beiden jungen Leute brauchten geschlagene zehn Minuten, um die Geschichte zusammenzubekommen. Die verwitwete Madame Baoulé hatte die Absicht, sich aus dem Fenster zu stürzen, um eine Chance zu haben, eine Aufenthaltsgenehmigung für sich und ihre Kinder zu erhalten. Eloi und Nathalie sahen sich fassungslos an.
»Die drehen durch«, folgerte Eloi.
»Sie wird ihre Aufenthaltsgenehmigung bekommen«, sagte Nathalie dem kleinen Jungen. »Das ist nur eine Frage der Geduld.«
Leon runzelte die Stirn. Er versuchte, sich an einen anderen Zwischenfall zu erinnern.
»Ach ja!«, rief er.
Dann schüttelte er den Kopf: »Nein, die Genehmigung bekommt sie nicht, das stand in dem Brief, dass sie die nicht bekommt.«
»Was?«, rief Nathalie und fuhr zusammen. »Hat sie einen Brief vom Flüchtlingsamt bekommen?«
»Ja, genau!«, rief Leon, der sich freute, es ganz richtig verstanden zu haben, und sich zur Feier des Ereignisses an die Rosinenschnecke machte.
Wieder sahen Eloi und Nathalie sich konsterniert an. Man hatte der verwitweten Madame Baoulé die Anerkennung als politischer Flüchtling verweigert.
»Fröhliche Weihnachten«, knirschte Eloi.
»Halt mal, wir werden kämpfen«, entgegnete Nathalie. »Da muss man Einspruch vor dem Verwaltungsgericht einlegen.«
Ihr Kampfgeist wurde dann doch kurz schwächer. Sie murmelte: »Das ist doch unglaublich. Dieser Frau das Recht auf Asyl zu verweigern … Ihr Mann wurde umgebracht, ihr Haus verbrannt, sie wurde …«
Sie verstummte wegen des kleinen Jungen. Sie kannte den Fall gut. Er war doch eindeutig. Mit welchem Argument konnte man den Antrag ablehnen?
Kapitel 16 In dem Philippine in ein Bounty beißt
Audrey war der Ansicht, sie habe großes Glück, weil ihr Bruder einen Fernseher in seinem Zimmer hatte und ihre Eltern einen Fernseher in ihrem Zimmer hatten. Der Fernseher im Wohnzimmer war daher fast ihr persönliches Eigentum. In den Weihnachtsferien zappte sie von einem Kanal zum nächsten, ließ auf dem Bildschirm nacheinander die hysterischen Zwillinge einer Sitcom, das Dreirad vom Teleshopping, die sich verprügelnden Zeichentrickfiguren Muto Sugoroku und Kazuki Takashié, den miserablen Wetterbericht der Woche und die jüngste Explosion einer Autobombe in Kabul vorüberziehen, alles immer wieder vom Weihnachtsglockenspiel untermalt:
Jingle bells, jingle bells
– jedes Mal, wenn Kellog’s Cornflakes und die verzauberte Welt von Polly Pocket vorbeihopsten. Audrey langweilte sich. Da sie das gewohnt war, merkte sie es gar nicht richtig. Sie gähnte, zappelte auf dem Sofa herum, rannte zum Kühlschrank, nahm einen Sahnejoghurt, rannte zum Fernseher zurück in der Hoffnung, inzwischen sei etwas Interessantes passiert. Zehn Mal am Tag stieß sie auf den Clip von
Street Generation
und nutzte die Gelegenheit, ihre Choreographie zu perfektionieren. Zusammen mit ihrem Zum-Kühlschrank-Rennen war das die einzige Bewegung, die sie sich verschaffte. Der nächste Wiege-Termin bei der Kinderärztin
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