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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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einleitenden Sätze durch:
Guten Tag, ich war gerade in der Nähe, ich hoffe, ich störe Sie nicht …
Sie schloss die Augen und klopfte.
    »Herein«, brüllte eine Stimme.
    Sie stand da wie gelähmt.
    »Na … herein?«, rief die Stimme verwundert.
    Sie trat ein, ließ den Blick durch das Zimmer schweifen und sah Eloi bäuchlings auf dem Bett liegen. Nackt. Sie hätte wieder aus der Tür gehen, fliehen sollen. Oder sich zumindest entschuldigen, etwas sagen. Sie blieb stehen und sah ihn an, ohne recht zu begreifen, was ihr geschah.
    »Oh, Scheiße«, murmelte Eloi und griff nach seinem roten Bademantel.
    Er hüllte sich überstürzt in den Bademantel, warf dann einen raschen Blick zur Seite und lachte.
    »Pech«, sagte er. »Ich bin Naturist. Alles klar bei Ihnen?«
    »Ich hoffe, ich störe Sie nicht«, erwiderte Cécile sorgfältig.
    Er lachte wieder.
    »Nicht besonders. Aber machen Sie trotzdem die Tür zu.«
    »Ich wollte Ihnen für alles danken, was Sie …«
    »Warten Sie, Madame! Wissen Sie, was wir tun werden? Gehen Sie zum Fenster und sagen Sie mir, ob Sie unten auf der Straße einen Typen im grünen Parka sehen.«
    Cécile sah keine andere Möglichkeit als zu gehorchen. Er redete sehr schnell, in einem Ton, der keine Widerrede duldete.
    Sie hob die Gardine hoch und blickte zur Straße hinunter.
    »Ich ziehe mich an«, warnte Eloi. »Also, ist da jemand?«
    »Ja.«
    »Ich werde observiert.«
    Die Vorstellung gefiel ihm sehr.
    »Der ist vom polizeilichen Überwachungsdienst. Die haben den Kerl auf mich angesetzt.«
    Cécile hatte nur eine sehr vage Vorstellung, was der polizeiliche Überwachungsdienst war.
    »Warum?«, fragte sie mit einer ganz kleinen Stimme.
    »Vielleicht wegen der AWG , deren Gründer ich bin. Sie können sich umdrehen, wenn Sie den Anblick eines Mannes in Unterhosen ertragen.«
    Cécile blieb wohlweislich mit dem Gesicht zur Straße am Fenster.
    »Oder vielleicht wegen dem Verein von Nathalie«, fuhr er fort. »Wirklich: Sie können sich umdrehen.«
    Er summte ein Kinderlied: »Karlemann zieht Hosen an, Karlemann hat Hosen an, sind 25  Knöpfe dran … Ich ziehe meine Kampfhose an. Ich bin mit nacktem Oberkörper sehr schön. Sie verpassen etwas.«
    Cécile verspürte Panik. Weil sie Lust hatte, hinzusehen. Sie hörte, wie er sich ihr näherte, während er sich fertig anzog. Er blieb hinter ihr stehen.
    »Also, Sie wollten mir danken?«, flüsterte er ihr ins Ohr.
    Sie drehte sich so abrupt um, dass sie ihn anrempelte. Sie wirkte wie ein armes kleines gejagtes Tier.
    »Ja!«, rief sie, mit dem Rücken an der Wand. »Ich wollte Ihnen wegen der Baoulés danken.«
    Eloi hätte gerne noch ein bisschen Katz und Maus gespielt. Aber er erinnerte sich an den kleinen Leon.
    »Apropos: Wissen Sie, dass ich eins der Baoulé-Kinder in der Weihnachtsnacht auf der Straße aufgesammelt habe?«
    Cécile musterte ihn misstrauisch. Allmählich fragte sie sich, ob er nicht zum Erzählen von Lügengeschichten neigte.
    »Er ist ausgerissen. Also so in der Art.«
    Mit wenigen Worten informierte Eloi Cécile. Er hatte Leon in den besetzten Bahnhof zurückgebracht und den Brief des Flüchtlingsamts gelesen, das den Asylantrag der verwitweten Madame Baoulé abwies.
    »Nat’ hat Widerspruch beim Verwaltungsgericht eingelegt.«
    »Wird das etwas ändern?«
    Céciles Interesse für die Situation der Baoulés ließ sie ihre eigene vergessen. Eloi knurrte: »Das wird uns Zeit verschaffen.«
    Dann lächelte er, verführerischer als je zuvor.
    »Und was machen wir jetzt?«
    Cécile merkte es nicht, aber ihre geweiteten Augen und ihr Körper, der so angespannt war, dass er zu vibrieren schien, waren eine unschuldige Liebeserklärung.
    »Was machen wir?«, wiederholte sie und rang die Hände.
    »Ja. Du und ich. Wir beide eben.«
    Sie sah zur Tür.
    »Wir könnten … einen Spaziergang machen? Gerade ist Weihnachtsmarkt.«
    »O ja, da könnten wir Sachen kaufen«, sagte er mit einfältiger Stimme. »Und dann auch noch Kram.«
    Er zog Schuhe an und verfügte: »Wir gehen zum Fluss. Und ich erzähle Ihnen mein Leben. Sie werden sehen, das ist faszinierend.«
    Er tat wie angekündigt und begann: »Ich bin der Sohn eines reichen Mannes, der eine reiche Frau heiratete …«
    Er war von dieser Geschichte – seiner Geschichte – besessen. Cécile hörte ihm geduldig zu, suchte in all dem Durcheinander einen Satz, ein Wort, das ihr den Schlüssel zu diesem Jungen liefern würde, den sie liebte. Eloi war gerade bei der

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