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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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Ohr.
    Diese nahm sie ungestüm in die Arme: »Du bist meine Freundin für’s ganze Leben«, sagte sie ihr zum Abschied.
    »Könnte ich morgen kommen?«, flehte Philippine ihre Großmutter an.
    »Aber nein, morgen ist der 24 .«, protestierte Mimi. »Na, komm, wir haben noch viel zu tun.«
    »Übermorgen?«, flehte Philippine und faltete die Hände.
    »Aber nein, da ist … da ist der 25 .!«
    »Ja, aber wann denn?«, rief das Mädchen und stampfte mit dem Fuß auf.
    Mimi nahm sie brüsk am Arm, schob sie zur Treppe und gab die schicksalhaften Worte von sich: »Ein andermal.«

Kapitel 17 In dem es »Dann eben nicht« heißt
    Bei den Barrois’ war es üblich, die Geschenke am 25 . Dezember morgens aufzumachen. Als Cécile Gil beobachtete, der sich auf dem Sofa räkelte, dachte sie wehmütig an die Zeit zurück, als er vor allen anderen aufgestanden und dann von einem Zimmer zum anderen gerannt war und gerufen hatte: »Er war da! Er war da!«
    Cécile und ihre Mutter hatten dieselbe Idee gehabt. Sie hatten Klamotten gekauft, und Gil packte die Päckchen aus, während er in seinem schleppenden Tonfall kommentierte: »Yeah, cool, eine Jeans. Yeah, super, noch eine Jeans.«
    Dann gab es noch ein T-Shirt und zwei Sweatshirts, alles sehr teuer.
    »Sind das nicht die Marken, die in Mode sind?«, fragte Madame Barrois besorgt.
    »Doch, bestimmt«, bemerkte Gil und schob das zweite Sweatshirt beiseite. »Aber ich habe keine Lust, mit groß ›Puma‹ auf mir herumzulaufen. Das ist doch nicht mein Name.«
    »Ich mache mal Kaffee«, murmelte Madame Barrois mit Tränen in der Stimme.
    Bruder und Schwester waren plötzlich allein im Wohnzimmer.
    »Du bist nicht nett, Gil.«
    »Ihr seid doch nicht verpflichtet, mich wie einen Schwachsinnigen zu behandeln«, brummte er ein wenig beschämt. »Mit sechs war ich überglücklich, ein Pokemon-T-Shirt zu haben. Und mit sieben war’s mir peinlich. Also, so ist es. Man wird größer.«
    »Ist das wegen Eloi?«
    »Eloi?«
    Cécile schüttelte den Kopf und murmelte »Nein.« Gil stand unter dem Einfluss des jungen Mannes, und Cécile wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Im Laufe des Tages musste sie noch ein paar Mal daran denken, was bewirkte, dass sie mehrfach an Eloi dachte. Wer war er wirklich? War er nett oder nicht nett? Sollte sie sich nicht selbst eine Meinung bilden? Sie kannte seine Adresse, Rue Jean-Jaurès 20 , und sie hatte einen guten Vorwand, um ihn zu besuchen: ihm für seine Kleidersammlung zugunsten der kleinen Baoulés zu danken.
    »Ich mach einen Spaziergang zum Weihnachtsmarkt!«, rief sie am nächsten Nachmittag ihrer Mutter zu, als sie ging.
    »Soll ich dich begleiten?«
    »Nein, nein, geht schon«, antwortete sie und errötete.
     
    Unten auf der Straße lief Cécile mit zügigen Schritten los. Sobald sie an Eloi dachte, verspürte sie einen Schmerz. Es war ein Schmerz, der vom Bauch ausging, die Rippen zusammendrückte, ihr den Atem nahm und von dem ihr schwindlig wurde. Sie mochte diesen Schmerz, der aus ihr einen neuen Menschen machte. Zwei Männer hatten sie im Vorübergehen angesehen. Man sah sie. Lag das am Rouge, das sie aufgetragen hatte? Oder an diesem Leiden, das ihr fiebrige Augen machte?
    Ihre Angst, Eloi zu sehen, war groß. Ihr Verlangen ebenfalls. Also würde sie klingeln. Er würde öffnen. Er würde sagen:
Ach, die Schwester von Gil.
Cécile legte sich ihre Sätze zurecht:
Ich hoffe, ich störe nicht? Ich wollte Ihnen danken …
Würde er ihr einen Tee anbieten? Sollte sie annehmen? Cécile fuhr zusammen. Sie war in der Rue Jean-Jaurès. Mein Gott, sorg dafür, dass er nicht zuhause ist! 16  … 18  … 20 . Sie knetete die Hände, wie jedes Mal, wenn sie sich angegriffen fühlte. Aber niemand zwang sie zu tun, was sie gerade tat. Sie konnte nach Hause gehen. Niemand würde etwas erfahren.
    Am Hauseingang gab es weder einen Zahlencode zum Öffnen noch eine Gegensprechanlage. Cécile stand im Treppenhaus, immer noch ohne etwas entschieden zu haben. In welchem Stockwerk wohnte er? Sie stieg fünf Stockwerke hinauf, weil sie sich sicher war, dass er im obersten wohnte. Und im sechsten Stock hing am Ende eines schlechtbeleuchteten Flurs mit Reißzwecken befestigt eine Karte, auf der stand:
No logo.
Sie war also wirklich bei Eloi. Sie wünschte sich mit aller Macht, er wäre nicht da, während sie zugleich bereits wusste, welch gewaltige Enttäuschung, fast eine Depression, sie vor einer verschlossenen Tür verspüren würde. Sie ging ihre

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