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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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Episode des Überfalls angelangt, kurz vor der Geburt seiner kleinen Schwester.
    »In dem Moment habe ich begriffen, dass Menschen in meinem Alter mich wegen nichts umbringen konnten. Wegen einer Jacke. In deren Augen war ich nichts anderes. Eine Jacke mit Logo. Daraufhin habe ich mich von allem frei gemacht.«
    Da sie am Fluss entlanggingen, machte er eine Geste, als werfe er alles ins Wasser: »Meine Markenklamotten, mein Luxusspielzeug, das Leben eines verwöhnten Kindes. Meine Eltern.«
    »Sie waren allerdings auch eifersüchtig«, sagte Cécile, als sei das etwas ganz Unbedeutendes.
    »Was?«
    Er sah sie mit weitaufgerissenen Augen an, als hätte sie gerade eine Ungeheuerlichkeit verkündet.
    »Eifersüchtig auf wen?«
    »Na, auf … auf Ihre kleine Schwester«, stammelte sie.
    Für sie war das offenkundig. Sicher, Eloi war von dem Überfall traumatisiert gewesen. Aber vor allem anderen hatte er Probleme damit gehabt, seinen Status als einziger und vergötterter Sohn zu verlieren – und dies umso stärker, da er lange überzeugt gewesen war, dass seine Eltern keine weiteren Kinder bekommen könnten.
    »Ha, ha!«, begann Eloi schwerfällig zu lachen. »Das ist mindestens Grundschullehrerinnen-Psychologie.«
    Dann hüllte er sich in Schweigen. Cécile begriff, dass sie eine Dummheit begangen hatte. Es tat ihr leid. Er war so süß, wenn er sich nur mit sich selbst beschäftigte.
    »Ach«, sagte sie, um ihn wieder zum Reden zu bringen. »Der Herr des polizeilichen Überwachungsdiensts ist gegangen.«
    Eloi sah hinter sich.
    »Er ist weg, um sich über Sie zu informieren«, sagte er bösartig. »Das ist schlecht für Ihre Karriere.«
    Cécile zögerte, bevor sie die Frage stellte. Aber da er sowieso verärgert war, riskierte sie nicht mehr viel.
    »Wegen was verdächtigt man Sie denn?«
    »Umsturz. Verbrechen gegen den Staat. Terrorismus!«
    »Sie wollen es mir nicht sagen.«
    »Aber ich habe es Ihnen doch gerade gesagt!«, erwiderte Eloi genervt. »Ich bin ein Gesetzloser. Ich mache Plakate kaputt, beherberge Wohnungslose, kleide Bettler …«
    Während er seine Fehler aufzählte, drehte er sich um sich selbst wie ein Walzertänzer, ganz nahe am Wasser. Und immer näher.
    »Ich helfe illegalen Einwanderern, und – das größte aller Verbrechen – ich weigere mich zu konsumieren!«
    »Vorsicht!«, rief Cécile.
    Er wäre beinahe gestürzt. Er lachte und näherte sich ihr mit ausgebreiteten Armen: »Gewähren Sie mir diesen Tanz, Frau Lehrerin?«
    Er schloss die Arme um sie und ließ sie ganz dicht am Rande des Quais mehrere Walzer drehen. Als er aufhörte, war sie bleich.
    »Sie tanzen nicht schlecht«, bemerkte er.
    Er absolvierte ihr gegenüber die ganze Nummer. Exhibitionist, Provokateur, Ausgeflippter. Sie hatte die Hand auf seinem Arm gelassen. Alles in ihrem Gesicht rief ihm zu:
Ich liebe dich!
Wie zur Antwort murmelte Eloi lächelnd: »Ich liebe Nathalie.«
    Cécile spürte den Stahl des Dolches, der ihr Herz durchbohrte. Ihr blieb einen Moment der Atem weg. Aber sie fasste sich wieder und sagte nur: »Dann eben nicht.«
    Daraufhin löste sie sich von ihm. Sie wusste genug über ihn. Auch wenn Eloi sich vom ganzen Drumherum frei gemacht hatte, so war er doch ein verwöhntes Kind geblieben. Er sah ihr zu, wie sie sich entfernte, ohne eine Bewegung, ohne ein Wort. Dabei hatte die Verzweiflung, die er ausgelöst hatte, ihn gerührt. Warum hatte er ihr gesagt, er würde Nathalie lieben? War das die Wahrheit? Er wartete darauf, dass Nathalie, die ihn so oft fertigmachte, schließlich schwach werden würde. Nathalie liebte ihn. Cécile liebte ihn. Aber er? Wen würde er lieben? Schwere Entscheidung.
    Er zog den Würfel aus der Tasche und hockte sich hin. Eins, ich liebe Nathalie. Sechs, ich liebe Cécile.
    »Zwei, vier, vier, drei, zwei, fünf, vier, drei, zwei, fünf, ja, verdammt! Zwei, drei, fünf, vier, das ist doch nicht wahr! Vier, drei, zwei, zwei …«
    Immer verblüffter machte er weiter. Der Würfel wollte nichts sagen. Er steckte ihn wieder ein. Na, dann eben nicht.
     
    Für ihn war es Zeit, im Tchip Burger seines Amtes zu walten. Er zog seine Arbeitskleidung an und löschte alles aus, was in ihm an Menschlichkeit war.
    »An die Kasse!«, brüllte Xavier.
    Gegen zwanzig Uhr kreuzte Nathalie vor ihm auf und gab ihre übliche Bestellung auf: »Für zehn Euro was von deinem Dreckszeug.«
    Eloi schenkte ihr sein Verkaufslächeln: »Zum Hieressen oder zum Mitnehmen?«
    »Nerv nicht.«
    Sie wandte

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