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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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sich um und sah in den Raum. Plötzlich fuhr sie zusammen.
    »Sag mal, Saint-André, was macht denn die Schnepfe von der Präfektur hier?«
    »Wer, was?«
    »Die rosa Schlampe. Das ist die Frau, die alle Welt ausweisen will. Ich frag mich, wer der Typ da bei ihr ist?«
    »Frag dich nicht weiter, Nat’, das ist mein Chef.«
    Nathalie runzelte die Stirn. Merkwürdiges Gespann. Sie schienen sich wirklich gut zu kennen.
    »Die ist wirklich ein Miststück«, flüsterte Nathalie.
    »Und er ist ein Dreckskerl«, sagte Eloi.
     
    Am nächsten Tag, dem 27 . Dezember, brachten die Guérauds, die den Brief vom Flüchtlingsamt erhalten hatten, einen zweiten Brief zum Büro des Vereins. Dieser stammte von der Präfektur und war ebenfalls an die verwitwete Madame Baoulé adressiert. Nathalie las die folgenden Zeilen:
    Madame,
    das Französische Amt für Flüchtlinge und Staatenlose OFPRA hat Ihnen den Status eines Flüchtlings verweigert. Folglich müssen Sie Vorkehrungen treffen, um das französische Territorium vor dem 15 . Januar des kommenden Jahres zu verlassen. Nach diesem Datum müssen Sie mit gerichtlicher Verfolgung und einem Erlass auf Ausweisung rechnen.
    Nathalie war sprachlos. Wie schnell das alles ausgeführt wurde, was für eine administrative Kälte in dieser Ruhephase zwischen Weihnachten und Neujahr! Eine eiserne Hand hatte die Baoulés gepackt und machte sich daran, sie zu zerquetschen.

Kapitel 18 In dem Cécile ein feines kleines Schwein zeichnet
    Cécile hatte die Tradition des Dreikönigskuchens schon immer gemocht. Zunächst war da der Duft nach Mandeln und Butter des frisch aus dem Ofen gezogenen Kuchens. Dann kam das Aufteilen: »Wer mag das Stück hier? Und für wen ist dieses?«
    Cécile hatte häufig die eingebackene kleine Figur gefunden und war zur Königin erklärt worden. Aber wenn es nur drei Anwärter auf die Krone gibt, ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß.
    An diesem 5 . Januar saßen Melanie Muller, Marie-Claude Acremant, Georges Montoriol und Cécile zusammen im Lehrerzimmer, um den Dreikönigskuchen zu essen. Sie warteten auf Chantal Pommier.
    »Entschuldigung, ich hatte noch ein Gespräch«, sagte sie, als sie klickernder und klackernder als je zuvor hereinkam. »Hast du meine neue Uhr gesehen? Wahnsinn.«
    Sie hielt Melanie eine Cartier-Uhr vor die Nase.
    »Mein Mann ist verrückt«, sagte sie und lachte zufrieden.
    Dann fügte sie mit einer gewissen Inkonsequenz hinzu: »Ach ja, ach ja, die Geschenke, die Geschenke! Die haben mir heute von nichts anderem erzählt. Ich habe ihnen dann immerhin gesagt, dass es bestimmt einige Arme gibt, die die Weihnachtsnacht auf der Straße verbracht haben.«
    Cécile und Georges sahen sich an. Beide hatten an Leon gedacht.
    »Gut, ich schneide jetzt den Kuchen«, sagte der Herr Direktor. »Ich teile in sechs Stücke.«
    »Sechs?«, fragte Marie-Claude.
    »Ja, eines für den Armen von Chantal.«
    Georges war selten ironisch. Niemand wusste, wie der Scherz gemeint war.
    »Cécile, wir brauchen eine unschuldige Hand. Wer bekommt das Stück?«
    Cécile wurde rot und verteilte die Stücke. Tatsächlich war ein Stück zu viel.
    »Ich warne Sie, wenn der kleine Arme nicht auftaucht, esse ich zwei Stück«, scherzte Georges noch.
    Niemand ging darauf ein. Beim Herrn Direktor hatte sich etwas verändert. Marie-Claude warf ihm einen fachkundigen Blick zu. Er wurde jünger. Dann sah sie Cécile argwöhnisch an.
    »Oh, ich glaube …«, stammelte das junge Mädchen.
    Sie ließ die kleine Figur auf den Teller fallen.
    »Es lebe die Königin!«, rief Montoriol fröhlich.
    Er überreichte ihr die Krone: »Ich werde Sie nicht bitten, sich Ihren König zu wählen. Ich habe keine Konkurrenz!«
    Marie-Claude wäre beinahe am Blätterteig erstickt, während Cécile rot anlief.
    »Ich muss gehen«, murmelte Melanie.
    Sie war kraftloser und gebeugter als je zuvor.
    »Wie geht’s den Kindern?«, warf Montoriol ihr mit einem Gesichtsausdruck zu, als sei ihm das völlig schnuppe.
    »Lola hat Bronchitis, und Martin bekommt gerade zwei Zähne gleichzeitig.«
    Cécile fragte sich, ob sie bis zum Sommer überleben würde. Dann ließ sie den Blick über die Anwesenden schweifen. Marie-Claude hatte einen grauen Teint, und das Weiß ihrer Augen ging ins Gelbliche. Chantal, nach den Exzessen der Feiertage prall in ihren Rock gepresst, hatte glühende Wangen unter ihrem Make-up. Nur Georges sah unverschämt gesund aus.
    »Treibt Sport, Kinder«, riet er ihnen. »Treibt Sport!

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