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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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können. Übrigens nennen ihn im Schulbezirk alle den Killer.«
    »Ich hoffe, er wird nicht auch in anderen Klassen herumschnüffeln«, bemerkte Marie-Claude schaudernd.
    »Das wäre ihm absolut zuzutrauen«, versicherte Melanie.
    Alle drei warfen Cécile einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie war es, die den Killer in die Schule gelockt hatte. Daraufhin kam es zu einer Welle von guten Ratschlägen, einer unnötiger als der andere: »Überprüfen Sie vor allem bitte die Hefte der schlechten Schüler«, flehte Melanie. »Auf die wird er sich stürzen wie der Teufel auf die arme Seele.«
    »Feilen Sie bloß gut an Ihrem Sachkunde-Unterricht«, fügte Chantal hinzu. »Das Spiel hat er mit einer Erste-Klasse-Lehrerin getrieben. Die Arme hatte weder in Geschichte noch in Geographie noch in Naturkunde irgendwas gemacht. Die ist richtig durchgerasselt. Er hat ihr die Note unter den Durchschnitt gedrückt!«
    Marie-Claude und Melanie stießen einen Schreckensschrei aus, während Chantal genüsslich wiederholte: »Unter den Durchschnitt. Und sie hat sich nicht davon erholt.«
    »Wenn man mit mir so was macht, kündige ich«, bemerkte Marie-Claude mit kämpferischer Miene.
    Alle drei waren völlig verängstigt. Als Georges ins Lehrerzimmer wirbelte, um Fotokopien zu holen, stieß er auf Cécile, die mit Trauermiene in ihre Teetasse starrte.
    »Was machen Sie denn für ein Gesicht!«
    »Er heißt der Killer«, murmelte sie.
    »Ich sehe schon … Die Damen haben Ihnen richtig Mut gemacht.«
    »Haben Sie denn keine Angst, wenn Sie einen Unterrichtsbesuch haben?«
    Er legte bedächtig seine Kopien zu einem kleinen Stapel zusammen und beschloss, die Wahrheit zu sagen: »Der letzte liegt drei Jahre zurück. Die zwei Wochen vor dem Besuch habe ich sehr schlecht geschlafen. So ist das, man macht uns klein, und wir zittern wie Kinder, die ihre Aufgaben schlecht gemacht haben. Ich war so wütend auf mich! Aber ich konnte nicht schlafen.«
    Sie lächelte ihn an, erleichtert von diesem Eingeständnis der Schwäche.
    »Und wie verlief es?«
    »Gar nicht so schlecht«, sagte er lässig. »Ich habe 19 , 5  Punkte bekommen.«
    19 , 5 von zwanzig, die beste Note, die vergeben wurde. Es war ihm nicht unrecht, dass seine jungen Kollegin das erfuhr.
    »Bis Mittwoch?«, sagte er und zwinkerte ihr zu.
     
    Cécile war eine diskrete junge Frau. Sie hatte ihrer Mutter viel von Audrey und Steven berichtet, hatte aber nichts Besonderes über Georges Montoriol erzählt, den sie »den Direktor« nannte. Einzig und allein für Madame Barrois erfand sie daher eine Lehrerversammlung mit »dem Direktor« am nächsten Mittwoch in der Schule. Georges wiederum erzählte seiner Frau von einer Einberufung aller Schuldirektoren in die Schulbehörde.
    »Was Ernstes?«, fragte Elisabeth besorgt, die immer auf der Lauer lag.
    »Was denkst du, die werden uns wieder mal mit ihren neuen Lehrplänen auf den Wecker gehen!«, erwiderte Georges mit verärgertem Gesicht. »Als würden wir unseren Beruf nicht kennen!«
    Montoriol war ein aufrichtiger Mann, er wunderte sich über die Leichtigkeit, mit der er log. Aber es geschah für eine gute Sache. Er unterstützte eine junge Kollegin, die verfolgt wurde.
    Beide machten sich im Klassenraum der ersten Klasse zu schaffen. Georges nutzte alle Möglichkeiten, den Schulinspektor zu täuschen. Er fertigte höchstpersönlich prachtvolle Tafeln mit Zahlen, Lauten und Wörtern an, die er an den Wänden aufhängte. Er holte Poster und Bücher in der Schulbibliothek, um den Raum freundlicher zu gestalten, während Cécile die Fächer ihrer Schüler saubermachte und dabei die losen Murmeln von Ines, die Liebesbriefchen-Sammlung von Toussaint und die Kreisel von Tom entdeckte.
    »Konfisziert?«, fragte Georges.
    »Ich gebe sie hinterher zurück«, nahm Cécile sich vor.
    Diese einfachen Worte verursachten ihr Herzklopfen. Hinterher. Gab es ein Leben nach dem Schulbesuch?
    »Bereiten Sie Ihre Tafelbilder für morgen vor«, befahl ihr Georges, der ziemlich gut den autoritären Ton von Monsieur Marchon nachahmte.
    Cécile schrieb das Datum des nächsten Tages an die Tafel. Dann schrieb sie in der schönsten Lehrerinnenhandschrift den Lesetext an. Es war ein kurzes Abenteuer von Kicko-Kack. Auf die rechte Klappseite der Tafel schrieb sie die Schreiblektion:
Schweinchen Heinz will nicht allein sein.
In der Stunde würde es um den Laut »ei« gehen. Auf die linke Klappseite schrieb sie eine ganze Reihe Wörter mit dem Laut des Tages, und trotz

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