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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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schlief, den Kopf an die Wand gelehnt. Sie näherte sich ihrem Sohn, diesem schönen jungen Mann, den sie in den vergangenen Jahren hin und wieder hinter den Scheiben des Tchip Burgers gesehen hatte. Er war kaum zu erkennen, mit verbundenem Schädel, geschwollenen dunklen Lidern, einer Sonde in der Nase und einer anderen in der Luftröhre.
    »Mein Gott«, murmelte seine Mutter.
    Sie sammelte sich einen Augenblick, das Gesicht in den Händen. Sie spürte jemanden hinter sich und fuhr zusammen. Es war ihr Mann. Monsieur de Saint-André war ein Schatten seiner selbst, unrasiert, bleich, mit zerknittertem Kragen, ohne jenen leicht ironischen Zug um die Mundwinkel, der ihm dazu diente, seinen Kummer zu verbergen.
    »Er wird durchkommen«, sagte er. »Er hat einen dicken Schädel, das wissen wir aus leidvoller Erfahrung.«
    Er war stolz auf diesen Sohn, der ein noch größerer Dickschädel war als er.
    »Geh dich ausruhen«, antwortete seine Frau. »Ich rufe dich an, wenn irgendetwas ist.«
    Sie setzte sich auf den kleinen Krankenhausstuhl, bereit, tagelang zu warten, nächtelang, monatelang. Gegen elf Uhr kam eine Krankenschwester herein. Sie lächelte Madame de Saint-André zu, beugte sich zu dem jungen Mann und sprach ihn an: »Eloi! Eloi!«
    Madame de Saint-André war verstört, als sie hörte, wie diese fremde junge Frau ihren Sohn mit Vornamen ansprach.
    »Hören Sie mich?«, fuhr die Krankenschwester fort. »Eloi! Versuchen Sie, die Augen zu öffnen! Na, los!«
    Sie streichelte ihm die Wange, hob ein Lid an, überprüfte die Infusionen. Sie wandte sich zur Mutter: »Ich möchte Sie bitten hinauszugehen.«
    Es war Zeit für das Waschen. Madame de Saint-André ging im Flur auf und ab. Zehn Minuten später kam die Krankenschwester an ihr vorbei und lächelte ihr erneut zu, sagte aber nichts. Noch konnte niemand etwas sagen. Und Madame de Saint-André kehrte zu ihrem kleinen Krankenhausstuhl zurück, um dort zu warten.
    Monsieur de Saint-André kam am Abend wieder und erhielt die Erlaubnis, die Nacht bei seinem Sohn zu verbringen. Man bewilligte ihm sogar den Komfort eines Sessels und einer Decke. Als seine Frau am Sonntagmorgen zu ihm kam, hatte er vor Müdigkeit glasige Augen.
    »Er scheint auf Reize zu reagieren«, sagte er fiebrig. »Als der Arzt ihn gezwickt hat, hat er gezuckt. Und als ich ihn vorhin angesprochen habe, hatte ich den Eindruck, er würde mich hören.«
    Beide beugten sich über das Bett wie früher über die Wiege. Martial sprach ihn an: »Eloi! Eloi! Vorhin hatte ich den Eindruck … Eloi!«
    »Geh dich ausruhen«, riet ihm seine Frau. »Du kannst nicht mehr.«
     
    Der Sonntag verging mit Höhen und Tiefen, die Krankenschwester vermittelte Hoffnung, aber der Arzt zögerte, sie zu bestätigen. Einen Moment lang öffnete Eloi die Augen, soweit die Schwellung es zuließ.
    »Eloi, Eloi!«, rief seine Mutter freudig ergriffen.
    Aber er richtete den Blick nicht auf sie. Vielleicht war es nur eine Reflexbewegung ohne Bedeutung. Ohne weitere Vorfälle brach die Nacht herein. Der Vater löste die Mutter ab. Madame de Saint-André ertrug es kaum, den Raum zu verlassen, aber sie musste sich ausruhen. Am Montagmorgen war sie gleich um acht wieder da. Die Krankenschwester empfing sie mit einem breiten Lächeln: »Es wird«, sagte sie. »Er hat seinen Vater erkannt.«
    Als seine Frau hereinkam, umarmte Martial sie wie verrückt. Die ganze Nacht war wie eine lange Geburt gewesen.
    »Er hat die Augen geöffnet, er hat mich angesehen. Er hatte Schmerzen. Wegen der Intubation.«
    Nach Mitternacht war der Arzt gekommen. Er hatte Eloi extubiert. Der Junge hatte versucht zu sprechen, konnte aber nichts sagen. Auf Fragen hatte er mit Blinzeln geantwortet. Dann hatten sich Schlaf- und Wachphasen abgewechselt, und er hatte immer besser verstanden, wo er war und was geschah.
    »Vorhin hat er ›Papa‹ zu mir gesagt«, sagte Monsieur de Saint-André, der glücklich war wie ein junger Vater, dessen Baby ihn zum ersten Mal ruft.
    Jetzt gerade schlief Eloi ruhig. Madame de Saint-André musste ihren Mann zum Ausgang schieben. Sie war fast eifersüchtig, dass sie nicht das Recht auf das erste Wort gehabt hatte. Jetzt wollte sie Eloi ganz für sich allein.
    Gegen zehn Uhr erwachte der junge Mann aus dem Schlaf. Und diesmal war es ein echtes Erwachen. Er sah seine Mutter, runzelte die Stirn und sagte: »Warum?«
    »Warum?«, wiederholte sie.
    In Elois Augen lag ein schreckliches Leiden, ein fragendes Leiden. Und Madame de

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