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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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vor allem aus wie ein Baby, das sich weigert, seinen Brei zu essen. Mit der Dreistigkeit eines Gerichtsvollziehers betrat er, ohne anzuklopfen, den Klassenraum von Cécile.
    »Steht auf«, murmelte Cécile.
    »Bleibt sitzen«, widersprach ihr Monsieur Marchon. »Machen Sie Unterricht wie gewöhnlich, Mademoiselle.«
    »Wer ist das?«, fragte Baptiste.
    »Pst«, machten die anderen.
    Der Inspektor ging nach hinten und stolperte, vielleicht absichtlich, über einen Ranzen, der mitten zwischen den Tischen lag.
    »Démor, räum deine Sachen auf!«
    Cécile warf ihren Schülern vernichtende Blicke zu. Rucksäcke wurden unter die Stühle geschoben, Rücken richteten sich auf. Cécile sackte mehr auf den Rand ihres Schreibtischs, als dass sie sich setzte. Ihr kam der Satz ihrer Mutter in den Sinn:
Stell ihn dir vor, wenn er seinen Schlafanzug anzieht.
Der Mann wandte ihr den Rücken zu, die Hände über seinem dicken Hintern gefaltet. Cécile stellte ihn sich vor, wie er eine karierte Schlafanzughose anzog. Sie wischte die Schreckensvision beiseite und fragte mit einer zitternden Stimme, die fröhlich klingen sollte: »Nun, also, was gibt es heute Morgen Neues, Kinder?«
    Normalerweise ertönten sofort die Antworten, weil jeder gehört werden wollte. Aber die Kinder schienen die Stimme verloren zu haben. Der kleine Chinese opfert sich und hob den Arm.
    »Ja, Vincent?«
    »Ich habe gestern einen Spaziergang im Wald gemacht.«
    Stille. Audrey hob ihrerseits den Arm: »Ich habe ferngesehen. Da waren die Mädchen von
Street Generation.
Die haben eine neue Single gemacht.«
    »Ach ja?«, bemerkte Cécile mit schwacher Stimme, wusste sie doch nicht so recht, ob Monsieur Marchon in allen Details mit der Karriere von
Street Generation
vertraut war.
    Baptiste drehte sich ständig auf seinem Stuhl um und beobachtete den Inspektor. Das war die einzige Bewegung in der Klasse. Monsieur Marchon schien sich in die Betrachtung der großen Bilder vertieft zu haben. Cécile holte tief Luft und stürzte sich hinein: »Übrigens, wisst ihr, dass Kicko-Kack Hase auch im Fernsehen war?«
    Fünf Minuten später hatten die Kinder die Anwesenheit des Inspektors fast vergessen und lauschten den Abenteuern ihres Lieblingshelden. Dann machte Cécile mit der heutigen Schreiblektion weiter, bei der Kicko-Kack Hase und seine tr EU e Fr EU ndin, die EU le, h EU te ein ungeh EU er großes FEU er machten.
    »Wer weiß, was ›ungeheuer‹ bedeutet?«, fragte der Inspektor plötzlich.
    Die kleinen Mädchen schreckten zusammen, als sie die dröhnende Stimme hörten. Baptiste drehte sich mit einem Satz zu Monsieur Marchon um und rief: »Das ist ein fieses Monster!«
    »Nein, mein Kleiner, in diesem Fall nicht! Sie müssen sich vergewissern, dass die Schüler die Bedeutung der Ausdrücke verstehen, die Sie verwenden, Mademoiselle«, sagte er dann mit strengem-aber-gerechten Tonfall zu Cécile.
    »Ja, ich, ja …«
    Sie hatte durchaus die Absicht gehabt, es ihnen zu erklären, aber der Inspektor hatte ihr nicht die Zeit dazu gelassen. Sie verteilte die Leseblätter, die sie selbst zusammenstellte und die ihr als Lehrbuch dienten. Da ihre beste Schülerin fehlte, nämlich Eglantine de Saint-André, ließ sie Philippine vorlesen. Währenddessen blätterte der Inspektor in den Heften der Schüler, dann öffnete er den Schrank hinten in der Ecke.
    »Madame«, flüsterte Louis. »Er guckt in deine Sachen …«
    Die Kinder waren entrüstet. Aber anstatt den Herrn auszuschimpfen, sah Cécile Louis tadelnd an.
    »Ines, lies jetzt bitte die beiden Zeilen unten.«
    Monsieur Marchon ging dazwischen und deutete auf Steven: »Ich würde gerne einen Jungen hören.«
    Cécile hätte beinahe gerufen:
Nein, nicht ihn!
Sie wusste, dass man ihn nicht vor zu große Schwierigkeiten stellen durfte. Er versagte rasch.
    »Lies bitte die beiden Zeilen unten vor«, bat der Inspektor in gutmütigem Ton.
    Steven saß da, die Augen starr auf das Blatt gerichtet, dann murmelte er: »Kann nicht.«
    »Wie, du kannst nicht? Zeig mir die Zeile, bei der wir sind.«
    »Kann nicht«, wiederholte Steven verschlossen.
    Der Inspektor hob erstaunt den Blick zu Cécile. Sie faltete die Hände zu einer stummen Bitte. Er bedeutete ihr, mit dem Unterricht fortzufahren, griff aber nach Stevens Heften und begann, sie durchzublättern. Seit einiger Zeit waren sie besser geführt, aber der kleine Junge hatte noch große Schwierigkeiten, auf der Linie zu schreiben, er vertauschte Ziffern und machte zahlreiche

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