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Ein Ort wie dieser

Ein Ort wie dieser

Titel: Ein Ort wie dieser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Aude Murail
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Schreibfehler. Monsieur Marchon warf die Hefte auf den Tisch des Jungen zurück, dann ging er nach hinten und murmelte, die Hände im Rücken: »Großes, großes Problem.«
    Woraufhin er seine Wampe hinter einen kleinen, freien Tisch zwängte und fast eine Stunde damit verbrachte, Céciles Klassenbuch zu prüfen und sich Notizen in einem Heft zu machen. Die junge Frau gewann wieder Vertrauen. Sie hatte viel gearbeitet, und ihr Buch schien ihr mustergültig. Sie machte daher mit der Schreiblektion weiter, wobei sie sich mit Steven, Audrey und Marianne besonders beschäftigte. So kamen sie bis zur Pause. Die Kinder waren so lieb, sich ruhig aufzustellen, und Cécile stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sie sie in die Pause entließ. Sie nickte Melanie verschwörerisch zu und kehrte in ihren Klassenraum zurück. Alles in allem verlief der Unterrichtsbesuch eher gut. Der Inspektor erwartete sie, die Hände im Rücken: »Ich würde gerne Ihr Klassenbuch, Ihre Vorbereitungsblätter für den Turnunterricht und Ihr Lesebuch sehen«, sagte er barsch.
    Cécile gab ihm also alles, was er forderte – mit einer Ausnahme. Er überprüfte rasch die Zeugnishefte der Kinder, dann fragte er: »Und Ihr Lesebuch?«
    »Ich habe keines.«
    »Das wollte ich hören«, rief der Herr Inspektor triumphierend. »Sie denken also, Sie können Ihren Schülern das Lesen ohne Lehrbuch und ohne Methode beibringen?«
    »Aber ich habe doch eine Methode!«, protestierte Cécile lauthals. »Die … Die habe ich Ihnen in einer Notiz erklärt …«
    »Ja, das habe ich gelesen, Mademoiselle, das habe ich gelesen. Das ist ein Sammelsurium von Dummheiten. Begeisterung und Ausrufezeichen waren noch nie ein guter Ersatz für Überlegungen.«
    Cécile schoss das Blut in die Wangen. Einen solchen Angriff hatte sie nicht mehr erwartet.
    » BA , BE , BI , BO , BU , das ist Ihre Methode. Wissen Sie nicht, dass die Wiederholung von Silben für die Schüler langweilig und kontraproduktiv ist, weil sie keinen Sinn vermitteln? Was aber ist das Lesen, Mademoiselle?«
    Monsieur Marchon erhob sich auf die Zehenspitzen, als würde er gleich davonfliegen: »Lesen bedeutet das Generieren von Sinn, es bedeutet nicht, jemandem
B A ist BA
einzutrichtern.«
    »Aber für Schüler mit Lernschwierigkeiten …«, wehrte sich Cécile.
    »Für die muss das Geschriebene noch stärker als für die anderen einen Sinn ergeben. Sie müssen den Lerner für sein Lernvorhaben aktivieren und ihm helfen, die Verknüpfung der notwendigen Elemente zum Textverständnis zu schaffen.«
    In ihrem Bemühen, dem Herrn Inspektor in die höheren Sphären des Denkens zu folgen, traten Cécile fast die Augen aus dem Kopf.
    »Und was sehe ich?«, fuhr Monsieur Marchon fort. »Was sind das für Geschichten von diesem Hasen … Kicko-Kack?«
    »Die … Die denke ich mir aus«, murmelte Cécile. »Denn ich glaube, dass die Phantasie …«
    »Die Phantasie!«, rief der Herr Inspektor. »Ja, von welcher Phantasie reden wir? Von Ihrer? Sind Sie Schriftstellerin, Mademoiselle? Mit welchem Recht liefern Sie die Kinder Ihrer Phantasie aus?«
    Cécile wich einen Schritt zurück, als würde Kicko-Kack plötzlich zum Kinderschänder.
    »Und wenn wir schon beim Beweis von Phantasie sind«, fuhr Monsieur Marchon fort, »Sie könnten mehr Phantasie bei Ihren Turnstunden zeigen.«
    Er nahm ein Blatt und las:
Känguru, Frosch, Hase
, dann ein anderes:
Frosch, Känguru, Hase.
Er schnaubte höhnisch: »Ganz entschieden werden Hasen hier sehr geschätzt!«
    Cécile protestierte nicht mehr und ließ den letzten Tadel mit gesenktem Kopf über sich ergehen.
    »Ihre methodologischen Irrtümer und Ihre ›Phantasie‹ sind gefährlich für die Ihnen anvertrauten Kinder. Die Freiheit des Pädagogen hat ihre Grenzen!«
    Monsieur Marchon endete mit einem Hustenanfall, und er schloss: »Ich halte Sie nicht weiter auf. Sie erhalten sehr bald meinen Bericht.«
    Cécile rannte los, überquerte den Hof und betrat, ohne anzuklopfen, das Büro ihres Direktors.
    »Oh, Georges!«
    Mehr konnte sie nicht sagen, sie stand vor ihm und rang die Hände. Er sprang auf: »Ist es schlecht gelaufen?«
    »Ich bin für den Beruf nicht gemacht.«
    »Oh nein, Sie werden doch nicht schon wieder damit anfangen! Die Kinder lieben Sie, und sie sind glücklich bei Ihnen.«
    »Ich bin gefährlich, das hat er mir gesagt.«
    Das Telefon klingelte. Georges gab ihr zu verstehen, dass er drangehen würde.
    »Einen Augenblick. Wir reden gleich weiter.

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