Ein Ort zum sterben
hätte ihr nie erlaubt, Edith Candle zu benutzen.
Wenn sie jetzt nicht zuschlug, vergab sie womöglich ihre einzige Chance. Der geldgierigen Séance-Clique ging es an den Kragen, die kunstvolle Konstruktion des Kartells knirschte in allen Fugen, am nächsten Morgen schon konnte alles in der Zeitung stehen. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Bei den Experten von der Börsenaufsicht wurde bestimmt schon auf Hochtouren gearbeitet. Wenn Charles mit den Unterlagen zu Coffey gegangen war, konnten sie in einer Stunde bei Edith vor der Tür stehen.
Was sollte sie sagen, wenn Charles ihr bei Edith zuvorgekommen war? »Könntest du mal eben wegsehen, während ich Edith die Daumenschrauben anlege?«
Als sie an den Schrank ging, um ihren Blazer herauszuholen, mußte sie an Helen denken. Helen wäre es gar nicht recht gewesen, daß ihre kleine Kathy eine nette alte Dame als Köder einsetzen wollte, darüber hätte sie geweint.
Es gab so vieles, worüber Helen weinte …
Als sie Kathy an jenem ersten Abend ins Bett gebracht und liebevoll zugedeckt hatte, war dem Straßenkind zum ersten Mal im Leben der Duft frischer Bettwäsche in die Nase gestiegen. Und am nächsten Morgen hatten saubere Sachen zum Anziehen bereitgelegen, die nach Weichspüler rochen. Auch Helen roch danach, wenn sie die Wäsche machte. An anderen Tagen roch sie nach Kiefernnadelöl, nach Scheuerpulver oder Bohnerwachs.
Mallory öffnete die Schranktür, und in der Wolke von Lavendel- und Mottenkugelduft wehte ihr Helen entgegen. Mit einer heftigen Bewegung schlug sie die Tür wieder zu.
Riker klopfte diskret an die Schlafzimmertür. Keine Antwort.
»Hey, Kathy!«
Trotz des vielen Kaffees waren ihre Bewegungen langsam und schleppend gewesen. Hatte sie sich vielleicht hingelegt? Nein, er hatte das ungute Gefühl, daß er allein in der Wohnung war. Er warf einen Blick ins Arbeitszimmer. Die Korkwand sah noch genauso chaotisch, aber irgendwie verändert aus. Das eckige Computerauge leuchtete blau mit weißer Schrift. Sie hatte den Rechner laufen lassen.
Und sich dann hingelegt?
Einen Herzschlag später warf er sich gegen die Schlafzimmertür, stolperte ins Zimmer, hörte die Dusche prasseln, klopfte an die Badezimmertür. »Kathy?«
Die Hintertür war abgeschlossen, das Schloß an der Badezimmertür billiger Schrott, der einem kräftigen Tritt nicht standhielt. Die Duschkabine war leer, das Badezimmerfenster stand offen. Riker streckte den Kopf in den Nieselregen hinaus. Vier Meter unter dem Fenster verlief ein Sims, auf dem man ohne größere Schwierigkeiten bis zur Feuerleiter balancieren konnte.
Charles hatte, da er an unsichtbare Mörder nicht recht glauben mochte, die Lampe so gestellt, daß sie wie ein Scheinwerfer die Tür anleuchtete. Ediths Vorbereitungen ließen darauf schließen, daß er nicht lange würde warten müssen.
Markowitz hatte schon recht gehabt: Bei derart dürftigen Beweisen konnte man den Fall nur so zu Ende bringen.
Er hatte keine Schritte gehört.
Eine Ladung geballter Energie brach über ihn herein, so rasch, so gewaltsam, daß zunächst kein Gesicht, keine Farbe, kein Stoff auszumachen war. Die Lampe ging zu Boden und zersprang klirrend, die nackte Glühbirne blendete ihn wie eine kleine Sonne. Dann stand zwei Zentimeter vor seinem Augapfel die Spitze eines Messers. An dem Messer vorbei sah er in die Augen eines Serienkillers.
Die am Boden liegende Lampe vergrößerte die Gestalt ins Riesenhafte, warf an die Wand und über die Decke einen gigantischen Schatten, dessen Konturen vor Charles’ Augen verschwammen, als er sich wieder auf die blinkende Messerspitze konzentrierte. Die kleinste Bewegung konnte ihn das Auge kosten. Mit größter Willensanstrengung ignorierte er das Messer, sah seinen Angreifer voll an und lächelte.
»Und welche Rolle spielen Sie jetzt, Gaynor? Jack the Ripper?«
Das Messer zog sich nur ein paar Millimeter weit zurück. Jonathan Gaynors Augen verengten sich mißtrauisch. Das Messer kam wieder näher, berührte jetzt fast das Auge. »Wo ist Edith Candle?«
Charles blinzelte nachdenklich und ließ das Lächeln zu einem leicht irren Grinsen verschwimmen. »Dachten Sie wirklich, ich würde eine alte Dame einer solchen Gefahr aussetzen?«
»Wie haben Sie es rausgekriegt?«
»Sie fragen sich, ob die Polizei inzwischen auch schon dahintergekommen ist. Ich denke schon. Sehr schwierig war es ja nicht.«
»Sie bluffen.« Das Messer vollzog Gaynors Kopfschütteln nach. »Sie haben gar nicht
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