Ein Ort zum sterben
Schneckentempo durch den Regen. Daß für Charles höchste Alarmstufe angesagt war, konnte er schließlich nicht wissen.
»Ich zahle Ihnen zehn Dollar für jede rote Ampel, die Sie überfahren«, sagte Charles.
»Ihr verrückten Amerikaner«, sagte der Mann, dessen Name ausschließlich aus Konsonanten bestand.
Charles schob einen Zwanzig-Dollar-Schein durch den Spalt der kugelsicheren Scheibe.
»Ich liebe dieses Land«, sagte der Taxifahrer.
Sie saß mit Riker am Küchentisch, zwischen ihnen gurgelte und spuckte die Kaffeemaschine. Ihr Schädel brummte, und sie hatte den Verdacht, daß die Ärzte ihr den Hirnkasten mit Watte vollgestopft hatten.
»Warum hat mir Charles nicht meine Sachen und die Schlüssel ins Krankenhaus gebracht?«
»Hat er ja vielleicht«, sagte Riker. »Du warst einfach zu schnell weg.«
Mallory schüttelte den Kopf. Nach Aussage des Pförtners war Charles schon vor ihr hier gewesen und auffallend rasch wieder gegangen.
»Wohin willst du, Mädchen?«
»Nicht nach draußen.« Mit der massiven Eichentür wäre selbst der Shadow überfordert gewesen.
Der Pförtner hatte sie mit seinem Generalschlüssel hereingelassen, und der mißtrauische Riker hatte die Wohnungstür fest verrammelt und den Reserveschlüssel aus der Küche eingesteckt. Danach hatte er sich den Schlüssel zur Hintertür gesucht, die zur Feuerleiter führte, und auch diesen Fluchtweg dichtgemacht.
Inzwischen bekam sie beim besten Willen keinen Kaffee mehr hinunter. Riker hatte Tasse für Tasse mitgehalten. Bei ihr hatte es wenig geholfen, Riker merkte man die schlaflose Nacht nicht an. Im Gegenteil, er war, hochgeputscht vom Koffein, zum ersten Mal so weit, daß er ihre nächsten Schritte voraussehen konnte.
Vielleicht jedenfalls.
Sobald er sich in den Sportteil der Morgenzeitung vertieft hatte, ging sie ins Arbeitszimmer und machte die Tür hinter sich zu. Sie zog den Stuhl, der vor dem Computer stand, in die Zimmermitte und bemühte sich, die Korkwand als Einheit, als einheitliches Denkprodukt zu sehen. Obgleich sich davor die fliegenden Blätter häuften, begriff sie erst nach einer Weile, daß ihr jemand zuvorgekommen war.
Charles.
Er hatte ganze Schichten abgetragen und die Fotos und Ausdrucke neu geordnet. Samantha Siddon nahm jetzt eine zentrale Stellung ein. Anne Cathery, Estelle Gaynor und Pearl Whitman bildeten seitlich, in der zeitlichen Reihenfolge ihres Todes angeordnet, eine besondere Gruppe, es folgten in Charles’ Rangordnung die Finanzbelege.
Die weißen Perlen, die man Anne Cathery an ihrem Todestag vom Hals gerissen hatte, waren auf dem Zettelberg und dem Kunststoffsack am Boden gelandet. Blutgetränkte, mit Perlen bedeckte Erde … In der Diaschau, die in ihrem Kopf ablief, schoben sich zwei Bilder übereinander: der Schauplatz des Mordes an Anne Cathery und der Raum, in dem Markowitz gestorben war. Sie sah sich Markowitz’ Leiche für den Fotografen zurechtlegen. »Bring die Blutspuren am Körper mit den Blutlachen am Boden zur Deckung«, hatte Dr. Slope gesagt.
Sie hockte sich vor das von Charles aussortierte Material. Was fehlte? Was hatte er mitgenommen? Das noch halb betäubte Gehirn arbeitete zu langsam, sie mußte sich von dem schnelleren Hirn ihres Computers helfen lassen und rief die entsprechenden Dateien auf. Und jetzt sah sie, was Charles gesehen hatte. Sah die Zeichen an der Wand.
Charles klopfte energisch.
Keine Antwort.
Er drehte den Türknauf. Die Wohnung war nicht abgeschlossen. Vorsichtig trat er ein. Das Wohnzimmer lag hinter vorgezogenen Vorhängen im Dunkeln. Aus der Tür zur Bibliothek fiel Licht. Ein Sessel war in die Zimmermitte gerückt worden. Im Schein der Tischlampe konnte er in dem Sessel eine dunkle Gestalt ausmachen.
»Ach, du bist es«, sagte Ediths Stimme.
Es dauerte eine Weile, bis er erkannt hatte, daß das, was sie in der Hand hielt und jetzt langsam sinken ließ, ein Revolver war.
Edith lächelte. »Du hältst mich sicher für ein sehr dummes, furchtsames altes Weib …«
»Ich halte dich keineswegs für dumm. Und daß deine Wohnungstür offensteht, spricht nicht gerade für ein furchtsames Gemüt. Ist das Herberts Revolver? Wie hast du ihn dazu gebracht, sich davon zu trennen? Aber ich vergaß – du warst es ja, die ihm die Waffe eingeredet hat, nicht wahr? Und du warst es, die den Drohbrief an Fabia Penworth geschrieben hat. Um Mallory auf Redwings Spur zu setzen. Wem hast du noch geschrieben?«
»Was soll das heißen?«
»Nein, ich habe
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