Ein Ort zum sterben
Er erinnerte sich an den von Louis Markowitz, der früher ganz ähnlich ausgesehen hatte – gefüllt und überwacht von einer Frau, die Einkaufslisten schrieb und Rezepte im Kopf hatte, Reste aufbewahrte und für kommende Mahlzeiten vorsorgte, einen Kühlschrank mit bunt-appetitlichen Früchten und knackigem Gemüse, Gewürzen und geheimnisvollen unbeschilderten Gläsern, in denen Flüssiges schwappte. In Louis’ späterem, frauenlosen Haushalt hatten hinter der weißen Tür nur noch Tüten von der Imbiß- und Salattheke und in den Ecken sonderbare pelzige Gebilde gelegen, die aussahen, als wären sie hergekommen, um auf den Tod zu warten.
Versonnen betrachtete Slope Anna Kaplans reichlich gefüllte Fächer. Essen ist Liebe, sagte dieser Kühlschrank.
Er war noch dabei, in Schüsseln und Töpfe und Plastikdosen zu schauen, als es klingelte. Das konnte nur Robin Duffy sein. Die sonst so herzhaft-heitere Stimme des Anwalts tönte heute tief und dumpf wie Trauergeläut. Robin hatte Louis Markowitz viele Jahre gekannt und würde nur schwer über seinen Tod hinwegkommen.
Dr. Slope langte nach dem Senf.
Jetzt waren sie drei.
Vor zwei Wochen war die Beerdigung gewesen. Heute Abend hatten sie sich in stillschweigender Übereinkunft wieder in der alten Freundesrunde versammelt.
Slope krampfte die Hand um die Plastikdose und machte das gequälte Gesicht eines Mannes, dem man beigebracht hatte, daß Tränen eines Mannes unwürdig waren. Er stellte die Plastikdose auf das Tablett. Was fehlte noch? Als die Türglocke einen vierten Besucher ankündigte, fiel ihm das Tablett aus der Hand.
Er bückte sich. Der Senftopf war zum Glück robust und noch intakt. Blindlings tastete er auf den Fliesen nach den heruntergefallenen Sachen, fand die Butter, das Messer. Die Augen hatte er dabei fest zugekniffen. Wasserdicht abgeschottet.
Als er alles zusammengeklaubt hatte, trug er das Tablett in das Arbeitszimmer des Rabbis, das an allen vier Wänden mit Büchern vollgestellt war und in dem zwei alte Freunde und ein hochgewachsener Fremder standen, der gerade das letzte Tischbein herausklappte. Trotz seiner Größe von fast zwei Metern wirkte er unbedrohlich, vielleicht weil er ein so sympathisches Gesicht hatte. Was für eine Nase! Und diese großen, wie in permanentem Staunen aufgerissenen Augen mit der kleinen blauen Iris, umgeben von unverhältnismäßig viel Weiß!
Slope mochte den Mann auf Anhieb. Er sah seine Freunde an, die – genau wie er – unwillkürlich lächelten.
»Nehmen Sie sich einen Stuhl, Mr. Butler.«
»Charles.«
»Ich heiße Edward.«
»Also dann zu den Grundregeln, Charles«, sagte Robin Duffy, ein kleiner bulliger Mann, Louis’ Anwalt und seit zwanzig Jahren sein Nachbar.
»Die kennt er schon. Von Louis«, sagte Rabbi Kaplan und rückte seinen Stuhl näher an den Tisch heran. »Charles hat zwölf Pfund Nickel- und Dime-Münzen mitgebracht.«
»Finde ich gut, wenn einer angetreten ist, in großem Stil zu verlieren«, sagte Robin Duffy in das etwas beklommene Schweigen hinein.
»Louis hat dich also zu unserer Runde eingeladen?« Slope gab die Karten und suchte sich die Zutaten für ein Rauchfleisch-Sandwich zusammen.
»Ich habe seinen Stuhl geerbt.« Charles musterte mit Kennerblick das Tablett und entschied sich für Cheddar. Schweizerkäse war im Geschmack entschieden zu kräftig für das zarte Hühnerfleisch. Er holte den Brief aus der Jackentasche, reichte ihn Slope und ließ sich von ihm dafür das Mayonnaiseglas geben.
Der Arzt betrachtete die aus vielen Jahren gemeinsamer Arbeit so vertraute Schrift. Louis’ Freund deutete auf den dritten Absatz, in dem tatsächlich von einer Erbschaft die Rede war. Stumm wurde der Brief weitergegeben. Die ausgeteilten Karten blieben liegen. Louis’ Freund hatte wohl mehr als nur einen Stuhl geerbt.
»Ich habe ja schon immer gesagt, daß die Pokerrunde nur ein Vorwand ist, um über Kathys Erziehung zu reden«, bemerkte Duffy und reichte den Brief weiter über den Tisch. Er machte eine Flasche Bier auf und griff nach seinem Blatt. »Hat Lou dir mal erzählt, wo er sie aufgelesen hat?«
»Nein.«
»Sie war zehn oder elf, als er sie dabei erwischte, wie sie einen Jaguar knacken wollte. Er packte sie am Kragen, und sie schlug wie wild um sich. Ja, und da blieb ihm nichts anderes übrig, als sie mit nach Hause zu nehmen, wenn er nicht ausgerechnet den Abend, an dem seine Frau Geburtstag hatte, mit endlosem Hickhack auf dem Jugendgericht zubringen
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