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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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hatte.
    Aber sie korkte nur energisch die Weinflasche wieder zu. »Haben Sie denn Theorien zu dem Unsichtbaren vom Gramercy Park, Jonathan?« erkundigte sich Charles.
    »Es muß ein gestörter Mensch sein.«
    »Warum?« Charles war mit den Zwiebeln fertig und zerpflückte Weißbrotscheiben in kleine Stücke.
    »Ich kann Ihnen aus eigener Anschauung versichern«, sagte Gaynor, »daß er Anne Cathery im Gramercy Park unmöglich hätte umbringen können, ohne gesehen zu werden. Der Mörder muß deshalb einen geistigen Defekt haben, so daß er nicht folgerichtig vorausplanen kann.«
    »Klingt plausibel. Aber wie erklären Sie sich dann, daß niemand ihn beobachtet hat?«
    »Ein dummer Zufall, der durchaus in meine Theorie paßt. Er hat einen unbeobachteten Augenblick erwischt.«
    »Und keinem ist ein blutbefleckter Irrer aufgefallen, der in aller Gemütsruhe den Park verließ«, ergänzte Mallory trocken.
    »Er hätte sich mit irgend etwas schützen können«, wandte Gaynor ein.
    »Setzt das nicht aber doch eine gewisse Planung voraus?« fragte Charles.
    »Gut, dann verlängere ich meinen unbeobachteten Augenblick. Nehmen wir an, der Mann – ein Penner vielleicht, der ihr gefolgt ist, nachdem sie aufgeschlossen hatte – hätte es auch noch geschafft, den Park zu verlassen, ohne daß jemand ihn sah. War er erst mal draußen, dürfte er nicht weiter aufgefallen sein. Wer schaut schon lange und genau genug hin, um zu merken, ob ein Passant Blut an den Sachen hat?«
    Charles sah plötzlich das lange rote Kleid der jungen Frau vor sich, die am Parktor gestanden und nach Henry Cathery gerufen hatte. Was Gaynor da sagte, klang durchaus einleuchtend. Blut ist – ob naß oder trocken – im wirklichen Leben nie so auffällig wie auf der Kinoleinwand. Vielleicht hatte der Täter dunkle oder rote Kleidung getragen. Konnte die Lösung so simpel sein?
    Bei Mallory kam diese These nicht so gut an.
    »Ich kann das einfach nicht glauben«, sagte sie.
    »Natürlich nicht. Kein vernünftiger Mensch würde glauben, daß jemand so abartig ist, eine hilflose alte Frau umzubringen.« Gaynor, der fleißig weiterrührte, hatte Mallory gründlich mißverstanden. Sie war durchaus nicht sentimental, wenn es um hilflose alte Damen ging. »Aber wahrscheinlich gibt es jede Menge Leute, die sich wünschten, der Unsichtbare wäre zu ihnen ins Haus gekommen.«
    »Ganz schön brutal«, sagte Charles und krümelte Hackfleisch in eine Schüssel.
    »Aber realistisch.« Gaynor sah Mallory an. »Denken Sie mal an die vielen Familien, die sich kein Pflegeheim für ihre Angehörigen leisten können. Die Leute leben heutzutage immer länger, sie werden neunzig und älter und kosten ihre Kinder einen Haufen Geld. Ich glaube nicht, daß die Mordserie in der Öffentlichkeit Empörung ausgelöst hat. Sie dürfte vielmehr die Phantasie der braven Bürger beflügelt haben. Es ist kein Zufall, daß der Unsichtbare in den Medien fast zu einer Art Supermann aufgebaut wird.«
    »Das klingt ja fast, als hätte ein Massenmörder der Menschheit einen Dienst erwiesen«, sagte Mallory.
    Die Richtung paßt ihr nicht, dachte Charles. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn Louis und Helen zusammen hätten alt werden dürfen. Sie schenkte sich nach, ohne die beiden Männer anzusehen.
    »Ich weiß, daß Sie Soziologe sind«, sagte Charles zu Gaynor, »aber haben Sie auch Erfahrungen mit Soziopathen?«
    »Ich kann nur soviel sagen, daß sie unbestreitbar einen Einfluß auf die Gesellschaft ausüben. In Kriegszeiten sind sie unentbehrlich. Wenn wir nicht genug davon haben, bauen wir in die Grundausbildung künstliche pathologische Elemente ein. Solange sie aufs Militär begrenzt bleiben oder auf den Kampfsport oder auch nur auf die Polizei, lassen sie sich in Schach halten. Wenn man aber zuläßt, daß sie auf die Zivilbevölkerung losgehen, treffen sie eine Auslese unter den Schwachen, den Faulen und –«
    »– den Alten«, hatte er sagen wollen, aber Mallory fiel ihm ins Wort.
    »Und wie ernst muß man den Einfluß von Insidergeschäften auf die Gesellschaft nehmen?«
    Charles sah ihr in die irischen Augen, die etwas Asiatisch-Unergründliches hatten.
    »Sehr ernst«, erwiderte Gaynor. »Im schlimmsten Fall verlieren die Anleger das Vertrauen zur Wall Street. Weil niemand sich gern mit Leuten einläßt, die mit gezinkten Karten spielen. Denken Sie nur an die Kleinaktionäre, die bei solchen Betrügereien immer am meisten zu verlieren haben. Denn die Verluste gehen ja querbeet

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