Ein Ort zum sterben
Wirklichkeit Hunderte von Millionen an der Börse bewegten. Aber Coffey hatte auch Mallorys Unterlagen über ihre Aktienportfolios und Beteiligungen noch nicht gelesen.
Mondgesicht schaltete sich wieder ins Gespräch ein. »Haben sich nicht Pearl und Estelle mal zusammen eine Firma gekauft?«
»Das ist zwanzig Jahre her, und sie haben den Laden im Jahr darauf wieder abgestoßen. Gemeinsamkeiten, hm …« überlegte Nickekopf. »Estelle und Samantha gehörten beide zu den vierhundert reichsten New Yorker Familien. Anne Cathery und Samantha waren Mitglieder der Daughters of the American Revolution. Sehr exklusiver Verein.«
Riker klopfte mit seinem Bleistift aufs Notizbuch. »Gibt es etwas, was allen gemeinsam war?«
»Sie waren alt.«
»Danke«, sagte Riker.
»Ist Ihnen eigentlich klar, meine Damen«, sagte Coffey in dem gleichen Ton, in dem er mit den Drittkläßlern zu sprechen pflegte, die auf einem Schulausflug bei der New Yorker Polizei auftauchten, »daß jede von Ihnen das nächste Opfer sein könnte?«
»Na ja, zuerst war es noch eine Art Lotterie«, sagte Nickekopf, »aber diesmal steht wohl so gut wie fest, daß Fabia die nächste ist. Zeig ihm den Brief, Fabia.«
Der kleine Kopf reckte sich, um über den gewaltigen Vorbau hinweg in die auf dem Schoß liegende Handtasche sehen zu können. Mit dramatischer Geste holte Fabia Penworth einen gefalteten Briefbogen heraus und sah interessiert zu, wie Riker und Coffey die Geldforderung und die Drohung gegen ihr Leben lasen.
Charles saß vor dem Microfiche-Gerät und ließ dreißig Jahre alte Zeitungen vor sich abrollen. Kathleen hatte recht gehabt. Da war es, auf dem Titelblatt einer großen Tageszeitung: das Foto der hysterischen Witwe, die sich über ihren toten Mann geworfen hatte.
Der Reporter der Times spekulierte, daß man Max noch hätte retten können, wenn der Helfer nicht die Scheibe des Glasbeckens zerschlagen hätte, als er sah, daß Max weit über den kritischen Zeitpunkt hinaus durch das Gewicht am Bein unter Wasser gehalten wurde. Die Scherben hatten eine Hauptschlagader getroffen; hilflos hatte das Publikum mit ansehen müssen, wie er verblutet war.
Jetzt hatte Charles ein weiteres Detail entdeckt. Aus der Zuschauermenge sah ihm das in ungläubigem Entsetzen wie versteinerte Gesicht seines Vaters entgegen. Wie gut er diesen fassungslosen Blick nachvollziehen konnte! Auch er hatte als Kind nie geglaubt, daß Max einmal sterben würde.
Als der neunjährige Charles zu der Trauerfeier gegangen war, hatte er nicht recht gewußt, wie sich Max’ endgültiger Abgang von dieser Welt vollziehen würde. An der Hand seiner Eltern hatte er den riesigen, von tausend Kerzen erhellten Kirchenraum betreten, in dem die zahlreichen Trauergäste sich versammelt hatten, um Abschied von ihrem Meister zu nehmen. Onkel Max lag friedlich in einem weißen Sarg. Man hatte dem Jungen gesagt, daß er tot war, aber noch immer klammerte er sich an die Hoffnung, es sei nur eine seiner trickreichen Nummern und nicht das unabänderliche Ende.
Himmelhoch wölbte sich das Dach des Doms. Die bunten Glasfenster und die Kerzen vermittelten den Eindruck unvorstellbarer Weite und Schönheit. Dann waren nacheinander, von keiner Menschenhand berührt, die Kerzen ausgegangen. Die Farben der Glasfenster leuchteten noch immer, doch das Kirchenschiff war in geisterhaftes Dämmerlicht gehüllt, als der erste Magier in weißem Zylinder, weißem Smoking und wehendem weißen Satincape vortrat und einen glühenden Feuerball hervorholte. Charles hatte diese Nummer schon auf der Bühne gesehen, es gehörte zu dem Besten, was Max je gezeigt hatte. Der Feuerball schwebte über den Sarg hinweg, in dem Max schlief. In langer Reihe zogen Männer und Frauen in Weiß daran vorbei. Als sie zurücktraten und wieder zu ihren Plätzen gingen, war der Sarg verschwunden.
Auf dem Friedhof war der Sarg dann wieder da, und Max’ Zauberstab wurde über dem offenen Grab zerbrochen.
Deutlich sah Charles den wolkenlos blauen, weiten Himmel vor sich, in den tausend weiße Tauben aufstiegen und die Sonne verdunkelten. Er hörte ihren brausenden Flügelschlag, spürte den Luftzug auf seinem Gesicht und im Haar. Als er wieder nach unten blickte, war der Sarg verschwunden, auf der Erde, die sich in dem offenen Grab häufte, lagen die Blütenblätter weißer Rosen. Höher und höher stiegen die Tauben, die Flügel arbeiteten heftig, als müßten sie eine schwere Last gen Himmel heben. Mit staunenden Augen
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