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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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folgte der kleine Junge ihrem Flug.
    Der Vorteil einer langen Nase ist es, daß ihr kaum etwas entgeht. Mallorys Parfüm begleitete ihn im Aufzug nach oben. Mit zwei schweren Lebensmitteltüten und einer Zeitung folgte er dem Duft über den Gang und in sein Büro.
    Mallory saß an dem Schreibtisch im Vorderzimmer, ihr gegenüber ein bärtiger Mann, dessen wild gestikulierende Arme Schlimmes für eine zierliche Tiffanylampe befürchten ließen. Das konnte nur der Soziologe, Erbe und Mordverdächtige vom Gramercy Square sein. Er hatte tatsächlich etwas von einer Vogelscheuche, allerdings galt das nur für die langen, unkoordinierten Schlenkerglieder. Das Gesicht war regelmäßig geschnitten und sympathisch, die Augen anteilnehmend und voller Wärme. Der Bart stand ihm gut zu Gesicht und lenkte von der schuljungenhaft kleinen Nase ab.
    »Charles Butler, Jonathan Gaynor«, stellte Mallory vor.
    »Freut mich sehr, Mr. Butler.«
    »Charles, bitte.«
    »Wunderschön, Ihre Fenster«, sagte Gaynor. »Aus welchem Jahr?«
    »Danke. So um 1935.«
    Schon oft hatte er bedauert, daß er das schöne hohe Bogenfenster nicht in seiner Privatwohnung hatte. Mallory saß am Schreibtisch wie im Mittelfeld eines Tryptichons. Hinter ihr stand das Dämmerlicht der ersten Abendstunde.
    Charles legte seine Tüten auf den Schreibtisch. »Dieses Zimmer ist ein Sonderfall. Die anderen Fenster im Haus sind aus derselben Zeit, aber in einem anderen Stil.«
    »Es ist auffallend still hier«, sagte Gaynor. »Doppelverglasung?«
    Charles nickte. Manchmal konnte man hier eine Stecknadel zu Boden fallen und, wie Mallory es ausdrückte, »Autsch!« schreien hören, wenn sie sich an dem harten Parkett den Kopf gestoßen hatte.
    »Wissen Sie, woran ich bei diesen Fenstern denken muß?« Gaynor fegte einen Bleistiftbehälter zu Boden und bückte sich ungerührt, er war es wohl gewöhnt, abgestürzte Gegenstände wieder aufzuklauben. »An den Malteserfalken. Sam Spade in Reinkultur.«
    Charles setzte sich auf die Schreibtischkante und sah seine Umgebung plötzlich mit ganz neuen Augen. An die Einrichtung dieser Wohnung war er mit dem Konzept gegangen, daß ein Raum eine dreidimensionale Metapher für ein Menschenleben, ein Grundelement der Harmonie ist. War der Raum erst einmal da, so hatte er sich gesagt, würde sein Leben neu, würde es rund und gut werden. Jetzt gab es ihm einen Ruck, als ihm klar wurde, daß sein »idealer Raum« in Wirklichkeit ein stereotyper Rahmen für Mordermittlungen war.
    »Ich habe Mallory dazu überredet, mit mir essen zu gehen«, sagte Gaynor. »Kommen Sie doch mit.«
    Charles ging mit seinen Tüten zur Tür. Über die Schulter sagte er: »Sie sind beide bei mir zum Essen eingeladen.«
    In seiner Wohnung hielt er sich am liebsten in der Küche auf. Auch die Besucher empfing er dort, die ständig hereinschneiten, seit er hier wohnte, und über die er sich nach den langen einsamen Jahren im Zimmer seiner Denkfabrik ehrlich freute.
    Die Academy of St. Martin in the Fields lieferte mit einem Mandolinenkonzert von Vivaldi diskrete, Gespräche fördernde Hintergrundmusik. Jonathan Gaynor machte sich nützlich, indem er die Sauce für die Klopse rührte. Mallory saß auf der Arbeitsfläche links von Charles’ Hackbrett und trank Weißwein, und Charles selbst war unvernünftig glücklich.
    »Köstlich«, sagte Gaynor und leckte den Löffel ab. »Haben Sie das Kochen bei Ihrer Mutter gelernt?«
    »Bewahre.« Charles, der gerade Zwiebeln hackte, lächelte unter Tränen. »Sie hat es nur ein einziges Mal fertiggebracht, den Toast nicht anbrennen zu lassen.«
    »Ach, komm«, sagte Mallory.
    »Ehrlich, ich habe es selbst miterlebt. Eine wunderschön goldbraun getoastete Scheibe lag auf dem Frühstückstisch. Ich wollte sie mir schon schnappen, aber mein Vater kam mir zuvor. Er gab sie meiner Mutter zurück und sagte: ›Die ist noch nicht angebrannt.) Sie steckte die Scheibe wieder in den Toaster, ohne mit der Wimper zu zucken, und holte sie kohlschwarz wieder raus.«
    »Ich kannte als Junge nur unser Internatsessen«, sagte Gaynor und ließ sich von Mallory Wein nachschenken. »Angebrannter Toast wäre da eine willkommene Abwechslung gewesen.«
    Beide sahen Mallory an, die in den Jahren bei Helen und Louis tagtäglich mit liebevoll zubereiteter, ausgewogener Kost versorgt worden war. Einen Moment dachte Charles, sie würde, um sich nicht lumpen zu lassen, Erinnerungen an eine Zeit hervorholen, in der sie sich aus Mülltonnen ernährt

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