Ein Ort zum sterben
Secondhand-Shop war allein im Laden. Seine Mitarbeiter hatten sich über die Mittagspause mal kurz abgesetzt, und er drückte beide Augen zu. Schade eigentlich, daß John und Peter nicht da waren. Wenn er es ihnen später erzählte, würden sie ihm kein Wort glauben. Er fand es ja selber unglaublich. Die junge Frau mit der Macke – eine typische Ladendiebin, hatte er gedacht – deponierte plötzlich eine Ladung Besteck in dem Karton für Küchengeräte. Mit dem leeren Handtuch ging sie rasch zur Tür. Dort aber drehte sie sich auf dem Absatz um, als sei ihr noch etwas eingefallen, und trat wieder an den Karton heran. Sie holte ein Messer heraus und rieb es mit dem Handtuch blank, holte sich das zweite, das dritte, dann setzte sie sich auf den Fußboden und kippte den Inhalt des Kartons auf den abgetretenen Teppichboden.
Eine ältere Frau mit eisengrauem Haar, Typ Hobby-Sozialarbeiterin, stellte sich neben die Kleine mit der Macke, die ein schmutziges, zerrissenes rotes Kleid anhatte, und sprach leise auf sie ein. Die aber starrte, taub und blind für ihre Umgebung, auf das Messer, das sie gerade in der Hand hielt, und putzte, was das Zeug hielt. Leise vor sich hinsummend fuhr sie mit dem Handtuch über die Messerklinge.
Die Eisengraue trat zu dem Verkäufer. Gemeinsam beobachteten sie die junge Frau. Sie putzte und putzte.
»Müßte man nicht irgendwo Bescheid sagen?« Augen und Stimme der älteren Frau schlugen Alarm.
»Wieso? Sie ist nicht gewalttätig.«
»Ja, aber … Finden Sie denn nicht verrückt, was sie macht?«
»Wir sind in New York, Lady. Wenn sie ein Bett in der Klapsmühle haben will, langt es nicht, verrückt zu sein, da muß sie schon einen um die Ecke bringen.«
Charles stellte das Bild auf den Kaminsims zurück. Bei den wenigen Schritten durch den kleinen Raum war ihm erschreckend klar geworden, was es mit den Fotos in den Silberrahmen auf sich hatte. Jetzt wandte er sich wieder seinem Hauptproblem zu.
Redwing verfügte, wie Edith meinte, über starke Kräfte und stellte dank ihrer Kenntnisse der Santeria, einer Mischung aus katholischen Riten und Voodoomagie, Zaubersprüchen und Tieropfern, eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar.
»Was Martin gesehen hat, war die zweite Schrift an der Wand«, sagte Edith gerade. »Herbert sah die erste. Die erste seit vielen Jahren. An den eigentlichen Vorgang des Schreibens kann ich mich nie erinnern. Der Satz, der plötzlich dastand und den Herbert gesehen hat, lautete: ›Der Tod ist nah in Zeit und Raum.‹«
»Wann hast du das letzte Mal mit Herbert gesprochen?«
»Das muß schon ein paar Tage her sein. Er machte sich große Sorgen um den armen Martin.«
»Um den armen Martin?«
»Martin ist ja leider ein bißchen gestört«, sagte sie und tippte sich vielsagend an die Stirn. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Charles sah sie ein wenig befremdet an, denn Martin war keineswegs verrückt. Henrietta, immerhin eine Ärztin für Psychiatrie, hatte dieses Wort nie benutzt. Sensibel hatte sie ihn genannt und labil – aber nicht geisteskrank.
Martin hatte sich ein Leben geschaffen, das seine Kunst ergänzte, ein Umfeld, das zugegebenermaßen ungewöhnlich war. Wie Henry Cathery hatte er sich für das kompromißlos Einfache entschieden, hatte jede laute Farbe aus seiner Umgebung verbannt, duldete, um besser zuhören zu können, nur das stille Weiß und reagierte deshalb sehr empfindlich auf jede andere Schattierung.
Charles hatte den Verdacht, daß Henrietta den Minimalkünstler nicht nur deshalb so fürsorglich im Auge behielt, weil sie fürchtete, er könne jeden Augenblick zusammenbrechen. War vielleicht Martin für sie so etwas wie der Kanarienvogel im Käfig, den die Bergleute früher tief unter der Erde in ihren Stollen hielten? So wie die Kumpel wußten, daß giftige Dämpfe drohten, wenn der sensible Vogel den Schnabel aufriß und mit den schwachen Flügeln an die Käfiggitter schlug, konnte Henrietta an Martins Verhalten ablesen, wann wieder mit Aktivitäten von Edith zu rechnen war.
Einem Intellekt zu folgen, dessen Denkvorgänge nur Sekundenbruchteile in Anspruch nahmen – soweit ging Ediths Befähigung nicht, und seine forschenden Fragen nach entscheidenden Einzelheiten hielt sie für höfliche Konversation. Charles Butler ließ sein Sandwich und seinen Tee unberührt. Er hatte es plötzlich sehr eilig.
Noch während der Wagen ausrollte, schaltete Mallory Motor und Scheinwerfer ab. »Hier haust Redwing diese
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