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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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wie schnell man zu Geld kommt, wenn man so aussieht und so riecht wie ich, dachte sie.
    Eine halbe Stunde später bog sie in die Avenue C ein, in jenen Teil des East Village, der Alphabet City oder auch Kriegszone heißt und in der Recht und Ordnung unbekannte Größen sind. Und deshalb fuhr sie erschrocken zusammen, als sie auf dem Gehsteig vor ihrem Haus einen Cop stehen sah, der sich mit einem zweiten Cop in einem Auto unterhielt.
    Er hatte sie also verpfiffen, dieser miese kleine Bankertyp. Das würde sie ihm heimzahlen, dem Arschloch.
    Sie drehte sich um, angelte einen Becher aus einem Papierkorb und ging zurück in Richtung U-Bahn. Nicht rennen, befahl sie sich, damit verrätst du dich nur.
    Mit dem Bettelbecher in der Hand wußte sie sich in Sicherheit. Kein Cop und kein Passant sieht der Armut ins Gesicht, wenn er es vermeiden kann.
     
    Das Videoband war auf Endlosbetrieb geschaltet. Markowitz durchtanzte die Nacht. Mallory ließ sich von der Popmusik der fünfziger Jahre in den Schlaf singen, und er tanzte im Traum mit ihr Rock ’n’ Roll. Der tanzende Detektiv hielt Mallory in den Armen. Sie war bewußtlos, und er versuchte verzweifelt, sie ins Leben zurückzuholen. Der Traum endete mit einem gekonnten Lassowurf. Sie landete am Boden unter der Korkwand. Er sagte etwas zu ihr, laut und drängend, aber sie verstand ihn nicht.
    Mallory wachte auf, hob den Kopf von der Schreibtischplatte, und die Videobilder drangen wieder in ihr Bewußtsein. Markowitz tanzte mit der jungen Helen davon und ließ Mallory im Dunkeln sitzen. Langsam reckte sie die Hände über den Kopf, ballte sie zu Fäusten und ließ sie schwer auf den Schreibtisch fallen.
    Warum laßt ihr mich so allein?

 

    War es Nacht? War es Tag? Auch nach einem Blick auf die Uhr ihres Nebenmannes wußte Margot noch nicht, ob es elf Uhr morgens oder elf Uhr abends war. Wie lange war sie schlafend in der U-Bahn durch die Stadt gerollt? Die Wagentür öffnete sich, ein weiterer Fahrgast stieg ein und setzte sich ihr gegenüber.
    Sie starrte auf seinen Mund. Es war ein grausamer Mund, eine grimmig-gerade Linie, die sich rechts und links bösartig nach unten senkte. Nie würde sie diesen Mund vergessen. Niemals. Wie oft hatte sie von diesem grausam verzogenen Mund und von dem tanzenden Messer geträumt. Der Zug hielt. Der Mann stieg aus, sie hielt sich dicht hinter ihm. Er war es, bestimmt. Sie folgte ihm durch den Tunnel zur nächsten Ebene. Das Messer tanzte aus ihrer Tasche. Mit einem Klick sprang die Klinge hoch.
    Kein Zweifel, er war es.
     
    Charles war in der Handbücherei gut bekannt. John, der Bibliothekar aus der Zeitschriftenabteilung, grüßte ihn im Vorübergehen. Die Stammgäste – vom Penner bis zum Akademiker – erkannten schon von weitem die Nase und freuten sich auf das unfreiwillig komische Lächeln ihres Besitzers. Diesmal aber war er nicht auf der Suche nach Material, sondern nach Fanny Evenroe. Er hätte auch im Who’s Who nachschlagen können, aber Fanny kannte den Mann, um den es ihm ging, persönlich.
    Sie hatte sich in einen dicken Wälzer vertieft. Er ging langsam auf sie zu, damit sie in Ruhe ihre Lektüre beenden und er sich vorstellen konnte, wie die über Siebzigjährige mit dem fein geschnittenen Gesicht und der kerzengeraden Haltung früher ausgesehen hatte.
    Wenn er an sie dachte, hatte er immer das Bild vor Augen, das sie bei ihrer ersten Begegnung für ihn aus der Erinnerung geholt hatte: wie sie als Siebzehnjährige auf dem Debütantinnenball in Washington in langen weißen Handschuhen und weißem Kleid im warmen Gaslicht des großen Saals Walzer getanzt hatte. Charles Butler war Romantiker und wie alle Romantiker seiner Generation zu spät zur Welt gekommen. Die Zeit der Ritterlichkeit, die Zeit der Walzer war vorbei.
    Fanny stellte das Buch ins Regal zurück und begrüßte ihn mit einem Lächeln, so daß er – wie jeder, der mit ihr sprach – sofort das Gefühl hatte, im Mittelpunkt ihrer Welt zu stehen. Als sie Charles die Hände hinhielt und ihn auf beide Wangen küßte, brauchte sie sich nur ganz wenig zu recken. Sie war über einsachtzig, ließ sich aber über ihre Größe – wie auch über ihr Alter – keine genauen Angaben entlocken.
    »Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen, Charles. Wer ist sie?«
    »Wie?«
    »In deinem Leben ist etwas Neues, man sieht es dir an.«
    »Ein neues Problem vielleicht …«
    »Und wie nennst du dieses Problem?«
    »Früher nannte ich es Kathleen. Neuerdings muß ich Mallory

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