Ein Ort zum sterben
Sammlerstücke. Der Kamin mit dem reich verzierten Sims erinnerte ihn an die Gespenstergeschichten, die Max an kalten Abenden zu erzählen pflegte, während die am Feuer getoasteten Marshmallows klebrige Fäden zogen, Geschichten, die zum Gruseln und zum Lachen zugleich waren.
Nachdenklich musterte Charles den Kaminsims. Irgendwie deckte sich der Anblick nicht mit seinen Kindheitserinnerungen. Er nahm einen der drei kunstvoll verschnörkelten Silberrahmen in die Hand. Die hatte er als Kind hier bestimmt nicht gesehen. In dem Rahmen steckte der Nachruf auf Max aus einer Zeitung. Das kleine Schwarzweißfoto, das zu dem Artikel gehörte, war das einzige Bild von Max Candle in der ganzen Wohnung. Er sah noch einmal genauer hin. Nein, das war kein Nachruf, es war ein Bericht über die berühmte Hellseherin Edith Candle, die den Tod ihres Mannes vorausgesagt hatte.
Es mußte der Artikel sein, den auch Mallory gelesen hatte. Die Nachbarn der Candles berichteten darin von der Schrift an der Wand, die den Tod des Magiers vorausgesagt hatte. Auch in dem zweiten Rahmen war ein Zeitungsfoto: große, gequälte Augen im Gesicht eines noch nicht ganz Sechzehnjährigen. Dann der Bericht über einen Selbstmord, in dem immer wieder Ediths Name auftauchte. In dem dritten Rahmen steckte das Foto einer glückstrahlenden jungen Frau, die, wie der dazugehörige Artikel berichtete, am Vorabend ihrer Hochzeit eines gewaltsamen Todes gestorben war.
»Charles?«
Edith brachte ein Tablett mit Teekanne und Tassen, Sandwiches und Besteck.
Er nahm es ihr ab. »Wollen wir nicht gleich hier essen? Zum letzten Mal war ich als kleiner Junge in diesem Zimmer. Hat Kathleen es gesehen?« Er setzte das Tablett auf dem achteckigen Tisch ab, um den schwere Klubsessel standen.
»Ja, wenn ich mich recht erinnere, habe ich sie durch die ganze Wohnung geführt.«
Sie wirkte zerstreut und fahrig, als sie den Tee einschenkte.
»Was drückt dich, Edith?«
»Es ist wegen Kathy. Ich mache mir Sorgen um das Kind.«
»Sie ist kein Kind mehr, sondern eine beängstigend tüchtige junge Frau.«
»Trotzdem … Ich glaube nicht, daß sie weiß, worauf sie sich einläßt. Ich spüre das Böse auf sie zukommen, Charles, ich spüre es in allen Fasern meines Seins.«
Er sah zu den Fotos auf dem Kaminsims hinüber. »Solche Vorahnungen hast du ja nicht zum ersten Mal …«
»Nein, leider. Und keine der Katastrophen habe ich verhindern können. Vielleicht ist unser Schicksal wirklich vorherbestimmt und unabwendbar.«
Er stand auf und griff nach dem Foto des jungen Selbstmörders. »Wie bei ihm?«
Sie kniff die Augen hinter den dicken Brillengläsern zusammen. Als sie erkannt hatte, was er in der Hand hielt, wandte sie rasch den Blick ab, konzentrierte sich voll auf seine Tasse und erkundigte sich fürsorglich, ob er ein Stück Zucker wollte oder zwei. Erst dann sagte sie: »Der Fall liegt mir seit vielen Jahren auf der Seele. Eine ganz, ganz schlimme Geschichte. Damals waren Max und ich auf Tournee im Mittelwesten. Das waren noch Zeiten! Jeden Abend stand unser Zelt in einem anderen Ort, auf Wiesen oder unbebauten Grundstücken.«
Sie streckte die Hand aus, und Charles überließ ihr den Rahmen.
»Dieser Junge hat meine wahre Begabung an den Tag gebracht. Ich spürte ganz stark seine Nähe. Als ich die Binde von den Augen nahm, sah ich in seinen Augen den Tod. Er war ungepflegt, ließ den Kopf hängen, hatte sichtlich etwas zu verbergen. ›Du mußt der Polizei sagen, was du gemacht hast‹, sagte ich zu ihm. Am gleichen Abend wurde hinter der Bruchbude, in der er hauste, in einem flachen Grab ein schon länger vermißtes junges Mädchen gefunden. Später hat er sich dann in seiner Zelle erhängt.«
»Hat sich der Tod des Jungen für dich vorher irgendwie angekündigt? Durch Zeichen an der Wand oder dergleichen?«
»Nein, das mit der Schrift an der Wand kam erst später. Viel später.«
»Was hat Martin an deiner Küchenwand gelesen, Edith?«
Sie mied seinen Blick, bewegte unruhig die arthritischen Hände und fixierte ein Spitzendeckchen. »Ich wollte nicht, daß er es sieht, du weißt ja, wie sensibel er ist. Als ich noch dabei war, die Schrift abzuwischen, kam er in die Küche. Ich hatte keine Schritte gehört.«
Wie viel Geduld es sie gekostet hatte, eine Beziehung zu Martin aufzubauen, konnte er nur ahnen.
»Und was stand an der Wand?«
»›Blut an den Wänden und auf den Gängen, Ströme und Meere von Blut …‹«
Der Verkäufer in dem
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