Ein paar Tage Licht
Toten führte, als das Militär zurückschlug. Dann Ansätze einer Liberalisierung, ein zarter algerischer Frühling mit einer neuen, wenn auch islamischen Verfassung, der Zulassung von Parteien, Pluralismus. 1991 der Sieg der Islamisten bei den Kommunalwahlen, wenige Monate später auch im ersten Durchgang der Parlamentswahlen, im Januar 1992 der Abbruch der Wahlen und der Putsch durch das Militär. Das »schwarze Jahrzehnt« Algeriens begann. Am Ende hatte es fast zweihunderttausend Menschen das Leben gekostet.
»Warst du mal wieder dort?«, fragte Aziz. »In Bologhine?«
»Gestern Abend.« Ein Abschiedsbesuch vielleicht, wer wusste schon, was in den nächsten Tagen geschehen würde. Er war mit der Seilbahn hochgefahren, hatte Minuten auf dem Platz vor Notre-Dame d’Afrique verbracht, hinabgeblickt auf das Stadion, das mittlerweile Omar Hamadi hieß und um eine Tribüne erweitert worden war. Zu Fuß war er hinuntergegangen, dann den Boulevard de l’Emir Khaled entlang, wie früher auf dem Heimweg zur Rue Abdelaziz Hamoua. Das Haus seiner Familie stand noch, aber es war nicht mehr ockerfarben, sondern schmutzig weiß. Fremde wohnten darin, frühere Bauern aus den Bergen. Den Block, in dem Aziz aufgewachsen war, gab es nicht mehr, man hatte das Gebäude gesprengt, um eine Straße zu bauen.
»So«, sagte Aziz, »gesprengt …« Er langte nach der nächsten Zigarette, entzündete sie mit dem Feuerzeug. »Gesprengt also.«
»Entschuldige, ich hätte es dir nicht erzählen sollen.«
»So ersparst du mir den Anblick.«
Nach einer weiteren halben Stunde deutete Aziz nach rechts. Ein paar einsame, nebelumhüllte Gebäude am Waldrand – Restaurant, Werkstatt, eine Zapfsäule.
Sie verließen die Autobahn, folgten einer kurvigen Landstraße, bogen auf den Parkplatz vor dem schlichten Restaurant ein. An der Zapfsäule stand ein Auto, eine ältere Frau ging auf die Verkaufsstelle zu. Andere Kunden waren nicht zu sehen.
Sie stiegen aus. »Mohamed«, sagte Aziz, »die zweite Station.«
»Ein Harki?«
Aziz nickte. »Ein Harki.«
Sie saßen in einer Ecke des Restaurants im Halbdunkel. Die Mehrzahl der Deckenlampen war defekt, draußen kam die Abenddämmerung, durch die verstaubten Fenster drang kaum noch Licht. Sie hatten gegessen, Couscous mit Lammfleisch und Gemüse, zu scharf und zu fettig, jetzt tranken sie zu dünnen Tee.
»Eine halbe Million unserer Leute hier in Frankreich sind Harkis oder deren Nachfahren. Es wird Zeit, dass Algerien ihnen verzeiht.«
Djamel lächelte flüchtig. Aziz, der Politiker. Schnell wurde das große Ganze bemüht.
Mohamed, der Harki, kam und räumte den Tisch ab. Er hatte bislang kaum etwas gesagt, wartete vielleicht, bis sie ihn zu sich riefen, um mit ihm zu sprechen. Ein alter Mann, groß und hager, dunkles, rundes Gesicht, mit tief im Schädel liegenden Augen, kantiger Nase, kurzem weißem Haar. Er ging ein wenig gebückt, doch die Unterarme waren muskulös, die Schultern breit. Ein Mann, der sich ins Grab schuften würde.
»Vertraust du ihm?«, fragte Djamel.
»Wie meinem eigenen Bruder.«
»Du hast keinen Bruder.«
»Du bist mein Bruder.« Aziz strahlte, eine Zigarette im Mund, jetzt zündete er sie an.
Vertrauen, dachte Djamel, das war das Problem.
Die Harkis hatten Algerien verraten. Hatten sich in den fünfziger Jahren für ein paar Algerische Francs von den Franzosen kaufen lassen, ihnen als Hilfssoldaten, Milizen und in den Ämtern gedient, insgesamt mehr als zweihunderttausend. Viele von ihnen hatten den Franzosen im Kampf gegen den FLN geholfen, die eigenen Landsleute in den Bergen aufgespürt und verraten.
Die Franzosen hatten es ihnen nicht gedankt. Der FLN hatte ihnen nicht verziehen.
Nach der Unabhängigkeit galten die Harkis als Kollaborateure. Wer konnte, floh nach Frankreich, das jedoch nicht einmal seine heimatlosen Algerienfranzosen willkommen hieß, die Pieds-noirs , schon gar nicht die Harkis. Bis weit in die siebziger Jahre hinein hausten viele von ihnen in Lagern und Waldcamps, die unwillkommenen Algerier, schwärende Erinnerung an ein düsteres Kapitel der französischen Geschichte.
La Grande Nation, dachte Djamel. Wie erbärmlich.
Doch um Frankreich ging es nicht.
Einem Verräter vertrauen?
»Du weißt, was du tust?«
Aziz nickte, die Arme gerieten in Bewegung, er lehnte sich vor. »Eine halbe Million, Djamel! Sie können uns helfen, wenn wir ihnen eine Chance auf ein besseres Leben geben. Mohamed war siebzehn, als er Harki wurde, jetzt ist er
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