Ein perfekter Freund
sich ihre Stimme. »Norina Kessler. Ich bin unterwegs. Hinterlassen Sie eine Nachricht oder versuchen Sie es auf meinem Handy.« Dann folgte ihre Handynummer.
»Norina?« sagte Fabio. »Bist du zu Hause? Falls du zu Hause bist, nimm bitte ab. Norina? Bitte. Ich muß mit dir reden.« Er wartete, aber sie meldete sich nicht.
Er versuchte es auf ihrem Handy. »Norina Kessler«, sagte ihre Stimme, »hinterlassen Sie mir Ihre Nachricht, ich rufe zurück.«
»Stimmt nicht«, sagte Fabio, »du rufst nicht zurück. Ciao.« Er legte auf und wusch das Frühstücksgeschirr ab. Dann wählte er wieder die Nummer ihres Handys.
»Entschuldige«, sagte er nach dem Signalton, »ich wollte nicht vorwurfsvoll klingen. Bitte ruf mich einfach zurück. Es ist wichtig. Bitte.«
Als er aus dem Bad kam, versuchte er es wieder bei ihr zu Hause. Wieder meldete sich ihr Beantworter. Diesmal hinterließ er keine Nachricht.
Er zog seine leichteste Sommerhose an und ein hellblaues Leinenhemd, das er nicht kannte. Dann konsultierte er seinen Stenoblock.
Termin mit Lucas (was war alles seit 8. Mai?) Daten und Sachen von der Redaktion abholen Marlen wegen Handheld fragen Er strich die letzte Notiz. Darunter stand in Marlens Handschrift:
10 Uhr Physiotherapie, Katja Schnell, Kaltbachweg 19.
Fabio gab Lucas' Durchwahl ein. Er wollte schon auflegen, als sich eine unbekannte Stimme meldete. »Berlauer.«
»Rossi. Ich wollte Lucas Jäger«, sagte Fabio.
»Der arbeitet heute zu Hause.«
Erst als Fabio aufgelegt hatte, wurde ihm klar, daß er mit seinem Nachfolger gesprochen hatte. Er rief Lucas zu Hause an. Sein Beantworter meldete sich. Er rief sein Handy an. Seine voice mail schaltete sich ein.
Fabio packte sein Powerbook in die Umhängetasche und ging. Katja Schnell war keine Dreißig, höchstens einen Meter sechzig groß und zerbrechlich wie Meißner Porzellan. Aber sie kommandierte ein Therapiezentrum, das eine dreistöckige Villa mit zwölf Therapieräumen ausfüllte und vierzehn Mitarbeiter beschäftigte. Sie inspizierte Fabio, der in Boxershorts vor ihr stand und sie um zwei Köpfe überragte. »Treiben Sie Sport?«
Fabio hatte vor dem Unfall einmal in der Woche mit ein paar Kollegen (unter anderem Lucas) Fußball gespielt, war regelmäßig geschwommen und bei fast jedem Wetter mit dem Rad zur Arbeit gefahren. Das sagte er der Therapeutin.
»Gut, fangen Sie wieder damit an. Außer mit dem Radfahren. Wir hier werden etwas an Ihrem Gleichgewicht arbeiten. Und ein wenig an Ihrer Kraft. Sie müssen Ihren Körper spüren, das ist das Beste fürs Gedächtnis.«
Sie umkreiste ihn wie ein winziger Militärarzt einen Rekruten bei der Musterung. Dann ging sie zu ihrem Schreibtisch, hantierte an der Schublade und kam mit einem Wattebausch zurück.
»Sie haben Untergewicht; essen Sie viel und gesund. Und sagen Sie Ihrer Freundin, sie soll sich die Nägel schneiden.« Sie betupfte zwei Stellen an seinem Rücken, die sofort zu brennen begannen.
Katja Schnell setzte sich hinter ihren Bildschirm. »Sie können sich wieder anziehen.«
Nach ein paar Minuten begann der Drucker zu arbeiten und spuckte ein Formular und einen Terminplan aus.
»Jeden Wochentag eine Stunde«, ordnete sie an, als sie die Papiere in einen Umschlag steckte, »zweimal Bewegung, dreimal Kraft. Erster Termin übermorgen um neun. Turnschuhe, Turnhose oder Trainingsanzug, zwei Frottiertücher, Duschutensilien. Kennen Sie ja alles vom Fußball.«
Auf dem Weg zur Tramstation versuchte Fabio vergeblich Norina anzurufen. Auch Lucas erreichte er nicht. Er beschloß, in die Redaktion zu fahren.
Es war schon nach Mittag, als Fabio ankam. Die meisten Schreibtische waren leer. Aber an dem, der bis vor kurzem sein Arbeitsplatz war, saß sein Nachfolger, mit dessen Namen er sein Gedächtnis nicht belasten wollte. Er schaute kurz vom Bildschirm auf und sagte: »Hallo, was kann ich für dich tun?«
»Falls Sie kurz unterbrechen können, würde ich gerne meine Daten kopieren.« Fabio hatte nicht vor, ihn zu duzen.
Der Jüngling wühlte kurz in einer Schublade und brachte eine CD zum Vorschein, die er Fabio entgegenstreckte. »Schon passiert.«
Fabio machte keine Anstalten, sie ihm abzunehmen. »Woher wollen Sie wissen, welche Daten ich brauche?«
»Lucas hat sie kopiert.«
Fabio nahm jetzt die Disk und zog sie aus ihrem Umschlag. Fabio Rossi persönlich hatte Lucas mit wasserfestem Filzstift in seiner säuberlichen Schrift darauf geschrieben.
»Alles da«, murmelte der Nachfolger
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