Ein perfekter Freund
Stufen führten zur Ladentür. Über ihr war ein Emailschild mit zwei Weinflaschen angebracht, mit der Inschrift »vini fini e comuni«. Grazia hatte schon manches Angebot für das Schild ausschlagen müssen. In der Gegend wohnten viele Grafiker und Dekorateure.
Der Laden bot Platz für drei Kunden. Wenn es mehr waren, mußten sie draußen warten. Es roch nach Schinken, Mortadella, Salami, Käse und dem Kaffee, den Grazia im Hinterzimmer in einer verbeulten sizilianischen Kaffeemaschine kochte. Seit Jahren drückte sie sich um eine überfällige Hüftoperation und war nicht gut zu Fuß. Aber immer noch sehr gut bei Stimme. Sie saß hinter der gläsernen Verkaufstheke und kommandierte die Verkäuferin herum. Nie blieb eine lange bei ihr.
Lino Neri und Fabios Vater hatten sich vor bald fünfzig Jahren in der Missione Cattolica Italiana kennengelernt. Fabio erinnerte sich an ihn, weil Lino ihn damals, als Italien gegen Holland verlor, mit den Worten getröstet hatte: »In vier Jahren werden wir Weltmeister.«
Als Lino Neris Prophezeiung eintraf, war dieser schon zwei Jahre tot. Von einem bei der Anlieferung rückwärts fahrenden Lastwagen eines Weinlieferanten überrollt.
Mit Linos Witwe hatte Fabio erst wieder Kontakt, als er vor drei Jahren bei Norina einzog. Der Neri lag direkt gegenüber von ihrer Wohnung.
Grazia öffnete bereits um sieben Uhr. Nicht wegen der Kundschaft - vor halb neun kam kaum jemand in den Laden -, sondern weil sie jeden Morgen um vier Uhr erwachte und nicht mehr einschlafen konnte.
Fabio hatte sich angewöhnt, auf dem Weg zur Redaktion im Neri einen von Grazias schwarzen, süßen Kaffees zu trinken. Ein Privileg, das er der Freundschaft zwischen Lino Neri selig und Dario Rossi selig zu verdanken hatte.
Zum Kaffee gab es meistens ein Stück Toast mit einer hauchdünnen Scheibe Parmaschinken oder Salami, wenn sie schön weich war. Das alles kostete nichts außer die unausgesprochene Verpflichtung, nie etwas, was der Neri im Sortiment führte, irgendwann im Leben irgendwo anders einzukaufen. Es hatte dazu geführt, daß Fabio den Inhalt fremder Einkaufstüten jeweils in seine Tasche umpackte, bevor er nach Hause ging.
Von Lucas war Fabio direkt zu Norinas Wohnung gefahren. Er hatte vergeblich geklingelt und war anschließend zu Neri gegangen. Es war ihm nichts anderes übriggeblieben, denn von ihrem Platz aus sah Grazia direkt bis zur Haustür.
Als er den Laden betrat, strahlte sie ihn an. Kein gutes Zeichen, denn Grazia Neri war eine Frau von eher ruppiger Herzlichkeit. Wenn sie lächelte, tat sie es für Polizisten und unangenehme Kunden.
Fabio lächelte zurück. Eine junge Verkäuferin, die er noch nie gesehen hatte, bediente eine ältere Frau aus der Nachbarschaft. Sie sprachen italienisch. Normalerweise hätte Grazia mit ihm ein paar Worte gewechselt, bis er an der Reihe war. Aber diesmal zog sie eine Computerliste aus einer Schublade und studie rte sie mit äußerster Konzentration. Als die Verkäuferin mit der Kundin zur Auslage vor dem Laden ging, fragte Fabio:
»Wie geht's?«
»Schlecht, wen interessiert's?«
»Mich.«
»Seit wann?«
»Was ist los, Grazia?«
»Das weißt du genau.«
»Nein. Ich habe keine Erinnerung an die letzten fünfzig Tage.«
»Wie praktisch.«
»Es ist nicht praktisch, das kannst du mir glauben. Es macht dich verrückt.«
Grazia zuckte die Schultern und vertiefte sich wieder in ihre Aufstellungen.
»Wie geht es Norina?«
»Frag sie selbst.«
»Sie spricht nicht mit mir.«
»Bravo.«
Die Verkäuferin kam mit der Kundin in den Laden zurück. Fabio wartete, bis sie die Einkäufe verpackt und die Beträge addiert hatte.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah er den Hauseingang, der während der letzten drei Jahre auch seiner gewesen war. Batteriestraße 38. Eine schwere Eichentür mit einem kleinen, gelb verglasten Fenster, das mit Schmiedeeisen vergittert war. Der Zaun zum Trottoir war bei der letzten, weit zurückliegenden Renovation der Liegenschaft entfernt worden. Bei dieser Gelegenheit hatte man auch den Vorgarten mit Zementplatten ausgelegt und neben dem Eingang einen Aluminiumschrank mit Milch und Briefkästen angebracht.
Norinas Wohnung lag im vierten Stock. Sie besaß drei Zimmer, zwei davon auf den Hinterhof hinaus, in welchem eine mächtige Roßkastanie stand. Küche, Bad und das dritte Zimmer gingen auf die Batteriestraße hinaus, eine Einbahnstraße mit wenig Nachtverkehr. Das Schönste an der Wohnung war die Dachterrasse.
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