Ein perfekter Freund
im Krankenhaus lag.
Das Trottoir war voller Leute, die von ihrer Mittagspause zurück an die Arbeit gingen. Fabio schlängelte sich zwischen ihnen durch. Er hatte die Computertasche umgehängt, in der Linken trug er die Tragetasche mit dem fluoreszierenden Schriftzug BOX!, mit der Rechten preßte er das Handy an sein Ohr. »Es ist mir scheißegal, ob er Besuch hat oder nicht, als ich ihn besuchte, hat er auch telefoniert. Stell mich durch, Sarah!«
Sarah Mathey war Rufers Sekretärin. Eine bald sechzigjährige schwere Frau, die ihr Berufsleben im Verlag verbracht und schon viele Chefredakteure kommen und gehen, viele neue Zeitungstitel entstehen und verschwinden gesehen hatte. »Sei vernünftig, Fabio, ich würde dich verbinden, wenn es irgendwie möglich wäre. Willst du eine Nachricht hinterlassen?«
»Ja«, schnaubte Fabio, »hast du etwas zum Schreiben?«
»Moment - jetzt, ich notiere.«
»Arschloch. Soll ich es buchstabieren?« Fabio beendete das Gespräch. Wie er Sarah kannte, war es nicht ausgeschlossen, daß sie ihrem Chef die Nachricht weiterleitete.
Ohne den Schritt zu verlangsamen, wählte er Lucas' Nummern. Weder zu Hause noch auf dem Handy meldete er sich. Fabio stoppte ein Taxi und stieg ein. »Bergplatz fünf«, sagte er zu dem Fahrer. Dieser drückte auf die Sprechtaste seines Funks und meldete: »Fumfzehn fahre Bergeplatze fumf.«
Der Bergplatz bestand aus einer Kreuzung von drei Straßen und zwei Tramlinien. Wie jemand dort wohnen konnte, hatte Fabio nie begriffen. Aber Lucas hatte behauptet, der Lärm störe ihn nicht, und wo sonst bekomme man noch drei Meter hohe Räume und Parkett zu diesem Preis.
Nach Fabios Meinung machten diese beiden vermeintlichen Vorteile die Sache nur noch schlimmer. Der Straßenlärm hallte nicht nur ungedämpft in den kahlen Räumen, das Parkett diente ihm als Resonanzboden. Lucas' Dreizimmerwohnung verstärkte jedes Geräusch mit Ausnahme der eigenen Stimme. Die schien sie seltsamerweise zu schlucken.
Fabio klingelte zum zweiten Mal bei L. Jäger. Diesmal blieb er eine ganze Weile auf dem Knopf. Er trat ein paar Schritte zurück und schaute zum zweiten Stock hinauf. Alle Zimmer, außer Bad und Küche, gingen auf den Bergplatz hinaus.
Nichts regte sich. Gerade als er wieder auf die Klingel drücken wollte, öffnete sich die Tür. Die alte Frau, die im ersten Stock wohnte, kam heraus. Fabio kannte sie von seinen gelegentlichen Besuchen bei Lucas. Sie besaß einen dicken Kater, den sie, wie auch jetzt, an einer roten Leine spazierenführte. Fabio wußte sogar seinen Namen. Was nicht schwer war, denn das Tier hieß Mussolini. »Nicht verwandt«, wie seine Besitzerin mit einem Schmunzeln anzufügen pflegte.
»Eine Sauhitze«, stöhnte sie, als sie ihn einließ.
»Eine Sauhitze«, bestätigte Fabio.
Lucas' Wohnungstür bestand zur Hälfte aus verzierten Milchglasscheiben. Wenn er zu Hause wäre, würde seine Anlage laufen. Lucas konnte ohne Musik keine Zeile schreiben. In der Redaktion trug er die Kopfhörer seines Walkmans bei der Arbeit. Ein Auge auf dem Bildschirm, eines auf den Leuchtknöpfen seines Telefons, dessen Klingeln er nicht hören könnte.
Aber aus der Wohnung drang keine Musik in die Stille des Treppenhauses. Nur Straßenlärm.
Fabio klopfte an die Scheibe. Nichts. Er nahm sein Handy und wählte Lucas' Nummer. Jetzt klingelte es hohl durch die Wohnung. Er ließ es klingeln, bis sich der Beantworter meldete.
»Nennst du das zu Hause arbeiten«, hinterließ Fabio als Nachr icht. Er riß eine Seite aus seinem Stenoblock und schrieb: So, so, ›zu Hause arbeiten‹. Ruf bitte an. F.
Als er den Block wieder einsteckte, fiel sein Blick auf Marlens Handschrift. Jetzt erinnerte er sich, daß er versprochen hatte, sie anzurufen. Er wählt e ihre Nummer. Ihr Beantworter meldete sich. Er hinterließ keine Nachricht.
Der Neri war ein kleiner Laden mit einem einzigen Schaufenster. Davor stand eine mit Früchten und Gemüsen überladene Auslage, die regelmäßig von der Polizei beanstandet wurde, weil sie zu weit aufs Trottoir reichte. Grazia Neri entschuldigte sich jedesmal überschwenglich und stellte pro forma ein paar Schachteln und Harasse um.
Bei fast jeder Witterung war die Markise vor dem Schaufenster heruntergelassen. Sie war rot, weil das dem Obst und Gemüse schmeichle, wie Lino Neri behauptet hatte. Vor zweiundzwanzig Jahren war er gestorben, aber auf der Markise stand noch immer in fetten grünen Buchstaben »Pizzicheria Lino Neri«.
Drei
Weitere Kostenlose Bücher