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Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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kaputtmachen.«
    Einen schrecklichen Moment lang war Fabio sicher, er würde es tun. Aber dann ließ Sami die Hände sinken, spuckte Fabio ins Gesicht und ging. Gefolgt von Toni, dem wertvo llen Menschen.
    Fabio suchte nach einem Taschentuch, fand keines, riß ein Büschel Gras von der Straßenböschung und wischte sich die Spucke vom Gesicht.
    Nur einmal in seinem Leben, als er Schüler war, hatte ihm jemand ins Gesicht gespuckt. Damals konnte er nicht anders, als zu heulen.
    Diesmal auch nicht.
    »Hatten Sie schon einmal einen Fall wie mich?«
    Dr. Vogel sah aus, als hätte er die Hoffnung aufgegeben, die Hitzewelle lebend zu überstehen. Er hatte nach seinem letzten Patienten das Hemd nicht gewechselt und war zu Fabios Begrüßung sitzen geblieben. Er schien auch keine große Lust zu haben, mit Fabio Gedächtnisübungen zu machen. Er hatte ihn über seinen Ausflug nach Amalfi ausgefragt, und so waren sie ins Plaudern gekommen.
    »Alle Fälle sind verschieden.«
    »Ich meine, den Fall eines Patienten, der vor dem Unfall eine große Veränderung durchgemacht hat und durch die Amnesie wieder an die Stelle davor zurückversetzt wurde.«
    »Alle Menschen ändern sich.«
    »Aber nicht so radikal. Gegen Leute wie Fredi Keller habe ich früher geschrieben. Und dann ziehe ich mit ihm durch die Schickimicki-Lokale der Stadt. Ich lebe mit einer Frau zusammen, die sich gegen die Ausbeutung der Frauen durch das Sexgewerbe engagiert. Und dann werde ich zum Stammgast in einem Striplokal. Ich mache mich lustig über die verlogenen Presseinformationen, die auf meinem Schreibtisch landen. Und dann lasse ich mich mit einer dieser Tanten ein, die sie schreiben. Ich habe mich ins pure Gegenteil meiner selbst verwandelt.«
    Dr. Vogel überlegte mit geschlossenen Augen. Vielleicht machte er auch ein Sekundennickerchen. Ohne die Augen zu öffnen, begann er zu sprechen: »In jedem von uns steckt das Gegenteil seiner selbst. Und fast jeder kommt in seinem Leben einmal an einen Punkt, an dem er ausprobiert, ob es sich dabei nicht vielleicht um sein wahres Selbst handelt. Daß Ihr Ausflug in Ihr Alter ego ausgerechnet von einer Amnesie betroffen wird, ist allerdings Pech. Nein, einen solchen Fall hatte ich noch nie.«
    »Ich kann es nicht nachvollziehen, verstehen Sie? Diese Lust, das andere Ich auszuleben, muß sich doch irgendwie ankündigen.«
    Dr. Vogel öffnete die Augen und zupfte einen Strauß Kleenex aus einer Box, wie ein Zauberer Seidentüchlein aus der Manschette. Er wischte sich damit über sein großes Gesicht und warf den Knäuel in Richtung Papierkorb. Er verfehlte ihn.
    »Latent war dieses Bedürfnis vorhanden, und etwas hat es dann provoziert. Vielleicht die Begegnung mit dem alten Schulfreund. Vielleicht, wie Ihre Lebensgefährtin darauf reagiert hat. Vielleicht beides.«
    Fabio dachte darüber nach. Dann fragte er: »Haben Gefühle nur mit dem Gedächtnis zu tun?«
    »Die Forschung unterscheidet zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis, dem bewußten und dem unbewußten Langzeitgedächtnis, wenn Sie so wollen. Nehmen Sie an, jemand wird im Alter von drei Jahren von einem Hund gebissen. Er erinnert sich zwar nicht daran, aber das Ereignis ist in seinem impliziten Gedächtnis gespeichert. Dreißig Jahre später fürchtet er sich immer noch vor Hunden. Den Gegensatz zwischen dem Gedächtnis, das ihm nicht beantworten kann, weshalb er sich vor Hunden fürchtet, und dem Gedächtnis, das ihn Reißaus nehmen läßt, wenn ihm Nachbars Zwergpudel über den Weg läuft, nennt man Dissoziation.«
    Dr. Vogel wischte sich mit der Hand über das Gesicht.
    »Man geht davon aus, daß diese beiden Gedächtnisse von unterschiedlichen Hirnstrukturen unterstützt werden. Ich neige dazu, zu glauben, daß die Gefühle im impliziten gespeichert sind.«
    »Und bei mir sind beide futsch?«
    »Das kann ich mir fast nicht vorstellen. Bei den meisten Patienten mit beschädigtem explizitem Gedächtnis ist das implizite noch intakt. In einem leichteren Fall, wie dem Ihren, sowieso.«
    »Warum fühle ich denn jetzt nicht dieses Bedürfnis, mein zweites Ich auszuleben? Wenn es doch schon vor meiner Amnesie bestand? - Sie haben da ein Stück Papier an der Backe. Nein, höher, ja, dort.«
    Dr. Vogel erwischte es und klaubte es weg. »Danke.«
    »Wenn die Gefühlswelt, in der ich mich befinde, die von damals ist, dann kann ich Ihnen sagen, daß es absolut undenkbar ist, daß ich mit irgendeiner Frau etwas angefangen hätte. Ich liebe Norina.«
    Dr.

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