Ein perfekter Freund
Vogel legte seinen Kopf in den Nacken und setzte sorgfältig die Spitzen seiner dicken Finger aufeinander.
»Möglicherweise stammen die Gefühle Norina gegenüber aus der Zeit nach Ihrer Amnesie.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich will damit sagen: Es kommt oft vor, daß die Liebe zum Partner stärker wird, wenn dieser sich in einer neuen Beziehung befindet.«
Dr. Vogel pflückte wieder eine Handvoll Tüchlein aus der Schachtel. »Das würde auch Ihre irrationalen Gefühle Ihrem Freund Jäger gegenüber erklären.«
»Daß ich den am liebsten umbringen würde, hat noch ein paar andere Gründe. Triftige, das dürfen Sie mir glauben.«
Zu den triftigen Gründen, Lucas zu hassen, war seit gestern noch ein weiterer hinzugekommen. Als Fabio aufgewühlt und gedemütigt auf der glühenden Landstraße die drei Kilometer von der POLVOLAT zum Bahnhof zurücklief, geschah etwas Seltsames: Jedesmal, wenn in ihm die Empfindungen wieder hochkamen, die die Begegnung mit Samis Gewalttätigkeit ausgelöst hatten, kam ihm Lucas in den Sinn.
Während der ganzen Rückfahrt im heißen, muffigen Regionalzug, dessen Fenster sich nicht öffnen ließen, verfolgten ihn Gewaltszenen. Alle assoziierte er mit Lucas.
Auch als er im Apartment am Powerbook seine Erkenntnisse aus dem Besuch der POLVOLAT zusammenfaßte und die Ereignisse beschrieb, solange er sie noch frisch im Gedächtnis hatte, vermischten sich die Bilder von Sami und Lucas.
Er verbrachte eine unruhige Nacht. Immer wieder erwachte er, schweißnaß, vom Lärm der heimkehrenden Tänzerinnen und ihrer Begleiter. Aus Albträumen, in denen ihm Gewalt angetan wurde von Lucas in weißen Überkleidern.
Als es hell wurde und die ersten Autos die Morgenstille störten, war Fabio zu der Überzeugung gelangt, daß sein letztes Gewalterlebnis mit Lucas zu tun haben mußte.
Und dieses hatte sich, soviel war erwiesen, am 21. Juni ereignet. In der Nähe der Endstation Wiesenhalde. Und der Gartengenossenschaft Waldfrieden.
Gleich nach seinem Termin bei Dr. Vogel stieg er in den Neunzehner. Der Wagen war fast leer. Trotzdem stand Fabio die ganze Strecke am Fenster und versuchte, durch das schmale Klappfensterchen etwas Fahrtwind abzubekommen.
Der Aufstieg am Friedhof vorbei zum Waldfrieden kam ihm noch beschwerlicher vor als beim letzten Mal. Die Wiese mit den Obstbäumen war gemäht. Die Dunstglocke über der Stadt sah noch gelber aus.
Er erreichte das Lattengatter mit dem Schild »Gartengenossenschaft Waldfrieden, nur Mitglieder und Gäste« und betrat das Grundstück. Unter dem Vordach des Häuschens mit gelben Läden, wo das letzte Mal die drei Männer Karten gespielt hatten, saß jetzt ein Ehepaar. Den Mann erkannte Fabio als einen der drei Kartenspieler. Er winkte ihm zu, stellte sich an das Gartentor und wartete. Das Paar tauschte einen Blick aus.
Der Mann stand auf, kam gemächlich den Plattenweg herunter und blieb vor Fabio stehen.
»Erinnern Sie sich an mich?« fragte Fabio.
»Sie sind der Freund von Lucas.«
»Haben Sie einen Moment Zeit?«
Der Mann schaute über die Schulter zur Frau, die sie gebannt beobachtete. »Wir essen gleich, aber wenn es nicht lange dauert…« Er öffnete das Gartentor und führte ihn zum Haus.
»Das ist ein Freund von Lucas«, sagte er zu seiner Frau.
»Fabio Rossi, freut mich.« Er gab ihr die Hand. Sie stellte sich nicht vor.
»Setzen Sie sich doch einen Moment«, forderte ihn der Mann auf.
»Ich möchte Sie etwas fragen, das Ihnen seltsam vorkommen muß«, begann Fabio. »Ich hatte einen Unfall. Dabei erlitt ich eine Kopfverletzung, die zu einem Gedächtnisverlust geführt hat. Jetzt versuche ich, herauszufinden, was ich in der Zeit, an die ich mich nicht erinnern kann, getan habe.«
»Ich kenne das«, sagte die Frau. »Ich bin in letzter Zeit auch vergeßlich. Möchten Sie ein Bier?«
Fabio lehnte ab. »In diesem Zusammenhang wollte ich Sie fragen, ob Sie sich zufällig erinnern können, mich am einundzwanzigsten Juni hier gesehen zu haben.«
»Oioioioi«, machte die Frau, »das ist ja eine Denksportaufgabe!«
»Was war das für ein Wochentag?« erkundigte sich der Mann.
»Ein Donnerstag.«
Fabio sah ihm die Erleichterung darüber an, daß sein Erinnerungsvermögen nicht auf die Probe gestellt wurde. »An Donnerstagen helfen wir immer der Tochter im Laden. An Donnerstagen sind wir nie hier.«
Fabio bedankte sich und lehnte die Einladung zum Essen ab. Es gab Wurstsalat. Am Gartentor gab ihm der Mann einen Tip:
»Fragen Sie
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