Ein perfektes Leben
ihrer dunklen Wintertracht und stiegen mit geradezu postmoderner Natürlichkeit in einen VW-Kombi.
Sein leerer Magen tanzte wie die Blätter der Lorbeerbäume, aber er wollte nicht ans Essen denken. Er dachte an Tamara, an Rafael, an den dünnen Carlos, an Aymara, die jetzt in Mailand, und an Dulcita, die weiß Gott wo war. Er dachte an den spektakulären fünfzehnten Geburtstag der Zwillingsschwestern, und schließlich dachte er an sich selbst, wie er hier in seinem im Winter kalten und im Sommer heißen Büro stand und auf die Lorbeerbäume hinunterblickte, damit beschäftigt, jemanden zu finden, den zu suchen ihm nie in den Sinn gekommen wäre. Na wunderbar!
Er presste die Fingerkuppen an die eiskalte Fensterscheibe und fragte sich, was er aus seinem Leben gemacht hatte. Immer wenn er über die Vergangenheit nachgrübelte, hatte er das Gefühl, dass er nichts war und nichts hatte. Vierunddreißig Jahre alt und zwei gescheiterte Ehen hinter sich. Er hatte Maritza wegen Haydée verlassen und Haydée ihn wegen Rodolfo. Und er hatte sie nicht zurückgewinnen können, obwohl er immer noch in sie verliebt war und ihr fast alles verziehen hätte. Er hatte Angst und zog es vor, sich eine Woche lang jeden Abend zu betrinken. Doch er konnte diese Frau einfach nicht vergessen, ebenso wenig wie die furchtbare Tatsache, dass man ihm prächtige Hörner aufgesetzt und dass sein Polizisteninstinkt ihn nicht auf ein Verbrechen aufmerksam gemacht hatte, das bei der Entdeckung schon monatelang andauerte. Er qualmte zwei Schachteln Zigaretten innerhalb von vierundzwanzig Stunden, und seine Stimme wurde mit jedem Tag heiserer. Ihm war klar, dass er nicht nur mit einer Glatze, sondern auch mit einem Loch in der Kehle und einem karierten Halstuch davor enden würde. Wie ein Cowboy nach getaner Arbeit. Vielleicht würde er auch mit Hilfe eines kleinen Mikrofons sprechen, das einem die Stimme eines Roboters aus rostfreiem Stahl verleiht. Zum Lesen kam er so gut wie nie. Vergessen auch der Tag, an dem er sich vor dem Foto von Hemingway, dem bewunderten Idol seines Lebens, einmal geschworen hatte, Schriftsteller zu werden, nichts anderes als Schriftsteller, und alles, was er erleben würde, als Lebenserfahrungen zu verbuchen. Tote, Selbstmörder, Mörder, Schmuggler, Zuhälter, Straßenhändler, Vergewaltiger und Vergewaltigte, Gauner, Sadisten und Perverse aller Arten und Kategorien, aller Geschlechter und Hautfarben, jeder sozialen und geografischen Herkunft und jeden Alters. Jede Menge Arschlöcher. Dazu Spuren, Autopsien, Exhumierungen, verschossenes Blei, Scheren, Messer, Totschläger, ausgerissene Haare und ausgeschlagene Zähne, entstellte Gesichter. Das waren seine Lebenserfahrungen. Dann, am Ende jeden Falles, den er gelöst hatte, eine Belobigung und am Ende jeden Falles, der ungelöst auf Eis gelegt wurde, ein schreckliches Gefühl von Frustration und Ekel und grenzenloser Ohnmacht. Zehn Jahre Herumwälzen in den Kloaken der Gesellschaft hatten ihm nur die schwierigsten, die bittersten Seiten des Lebens gezeigt und ihn schließlich auf bestimmte Reaktionen und Erwartungen festgelegt. Zehn Jahre hatten gereicht, seiner Haut jenen fauligen Gestank einzuätzen, von dem er sich nie mehr würde befreien können. Und den er, was noch schlimmer war, nur dann wahrnahm, wenn er besonders stark wurde; denn sein Geruchssinn war ein für alle Mal abgestumpft.
Alles ganz wunderbar, so wunderbar und angenehm wie ein gezielter Tritt in die Eier.
Was hast du aus deinem Leben gemacht, Mario Conde?, fragte er sich wie jeden Tag. Und wie jeden Tag hatte er Lust, die Zeitmaschine rückwärts laufen zu lassen, seine Verletzungen, seine Irrtümer und seine Exzesse, seine Wut und seinen Hass auszulöschen, seine verfehlte Existenz abzulegen und den Punkt zu finden, an dem er wieder ganz von vorn beginnen konnte. Aber hat das überhaupt einen Sinn?, fragte er sich dann, jetzt, da ich sogar eine Glatze bekomme? Und er gab sich dieselbe Antwort wie immer: Was hattest du dir vorgenommen? Ah ja, du sollst keine vorschnellen Urteile fällen. Aber ich liebe vorschnelle Urteile, dachte er und rief Manolo an.
Die Erzählung hieß »Sonntage« und war eine wahre und obendrein autobiografische Geschichte. Sie beginnt an einem Sonntagmorgen. Die Mutter des Protagonisten (meine Mutter) weckt ihn, »Aufstehn, Junge, halb acht«, und er weiß, dass er heute weder frühstücken noch länger im Bett bleiben oder danach Baseball spielen kann. Denn es ist
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