Ein perfektes Leben
Sonntag, und er muss in die Kirche gehen wie an jedem Sonntag, während seine Freunde (»Sie werden in der Hölle schmoren«, sagt seine/meine Mutter) den einzigen schulfreien Morgen der Woche damit verbringen, im Viertel herumzustrolchen und in einer Nebenstraße oder auf dem freien Gelände an der Ecke Baseballspiele (mit oder ohne Schlagstock) zu organisieren. Ich fand das sehr antiklerikal. Ich hatte Boccaccio gelesen, und im Vorwort wurde erklärt, was »antiklerikal« ist. Als ich Baseballspieler werden wollte, machten die obligatorischen Kirchenbesuche aus mir ebenfalls einen Antiklerikalen, und so kam ich auf die Idee, diese Erzählung zu schreiben. Allerdings war ich nicht erklärter-, sondern gezwungenermaßen antiklerikal, sozusagen im Verborgenen, wie der Eisberg, von dem Hemingway spricht.
Das war also die Erzählung, die ich in die Literaturwerkstatt mitbrachte.
Das Gefühl, Schriftsteller zu sein, ist unbeschreiblich. Auch wenn die Werkstatt in Wirklichkeit einem Kuriositätenkabinett glich. Dort traf sich alles, von den zwei einzigen anerkannten Schwulen der Oberstufe, Millán und dem schwarze Pancho, bis zu Quijá, dem Kapitän der Basketballmannschaft, der ellenlange Sonette schrieb; von Adita Vélez, die so vornehm und so schön und so empfindlich war, dass man sie sich unmöglich bei der täglichen Verrichtung des Kackens vorstellen konnte, bis zu Miki Cara de Jeva, dem »Mädchengesicht«, dem Schönling der Klasse, der noch nie in seinem Leben eine Zeile geschrieben hatte und nur hierher kam, um Frauen aufzureißen; von dem schwarzen Afón, der fast nie zum Unterricht erschien, bis zu Olguita, unserer Literaturlehrerin, die das Ganze leitete; und von mir bis zum Hinkefuß, Gründer und Seele der Literaturwerkstatt. »Das ist ein wirklicher Dichter«, sagten die Leute von ihm. Er hatte ein paar Verse in Der bärtige Kaiman veröffentlicht und trug weiße Hemden mit steifem Kragen und langen Ärmeln, die er bis zum Ellbogen hochkrempelte. Aber nicht etwa weil er ein Dichter war oder so, sondern weil es die einzigen weißen Hemden waren, die er für die Schule besaß. Er musste die Hemden und Krawatten austragen, die sein Vater bereits als Handelsvertreter in Venezuela getragen hatte, damals in den Fünfzigerjahren, genau zu der Zeit, als der Hinkefuß geboren wurde. Deswegen war er Venezolaner, aber aus La Víbora. Er war es auch, der eine Zeitschrift der Literaturwerkstatt ins Leben rief und uns damit, ohne es zu wollen, in die Scheiße ritt.
Wir trafen uns jeden Freitagnachmittag unter den Mangrovenbäumen auf dem Sportplatz. Olguita, die Literaturlehrerin, brachte eine riesige Thermosflasche mit kaltem Tee mit, und bis in die Nacht mühten wir uns mit Gedichten und Erzählungen ab. Wir waren äußerst kritisch mit den anderen, suchten immer das Haar in der Suppe, fragten nach dem aktuellen Bezug, danach, ob ein Beitrag idealistisch oder realistisch, welches das Thema und welches der Gegenstand war. All dieses alberne Zeug, das uns in der Schule beigebracht wurde, um uns die Lust am Lesen zu nehmen. Olguita dagegen sprach nie von so etwas und las uns jede Woche ein Kapitel aus Rayuela vor. Man sah ihr an, dass sie den Roman liebte, denn immer wieder sagte sie mit zitternder Stimme: »Das ist Literatur.« Für mich hatte sie so große Ähnlichkeit mit der Zauberin aus dem Roman, dass ich mich fast in sie verliebte, obwohl ich doch mit Cuqui ging und außerdem in Tamara verliebt war; dabei hatte sie ein pockennarbiges Gesicht und war rund zehn Jahre älter als ich. Und auch ich stimmte der Idee zu, jeden Monat eine Zeitschrift mit den besten Sachen aus der Werkstatt herauszubringen.
»Die besten Sachen«, das war auch so ein Streitpunkt. Denn wir alle schrieben nur »beste Sachen«, doch um alle Beiträge veröffentlichen zu können, hätten wir ein ganzes Buch gebraucht. Da sagte der Hinkefuß, dass wir in der Nullnummer – mich verwirrte der Begriff »Null-Nummer«, wo es doch in Wirklichkeit die erste Ausgabe werden sollte, denn null heißt null, und bei einer Nullnummer musste ich immer an eine Zeitschrift mit leeren Seiten denken oder, besser noch, an eine Zeitschrift, die nie erscheint, oder? –, dass wir also eine strenge Auswahl treffen müssten. Er und Olguita sollten nun unter den Beiträgen »die besten Sachen« auswählen, was einem Vertrauensbeweis für die beiden gleichkam. Und sie entschieden sich für »Sonntage«. Ich war ganz aus dem Häuschen bei dem Gedanken daran, dass
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