Ein perfektes Leben
über seine letzte Eroberung berichtete, während er ihn zu Tamara fuhr. Strawberry Fields forever …
»Genau hier lag das Notizbuch mit den Telefonnummern.«
Die Zeit ist eine Täuschung. Nichts hat sich in der Bibliothek verändert. Die komplette Ausgabe der Enzyklopädie Espasa-Calpe, »die am meisten weiß«, steht unverrückbar im Regal, mit ihren trotz der Jahre goldglänzenden Lettern auf den dunkelblauen Buchrücken; der Doktortitel in Rechtswissenschaften von Tamaras Vater hängt unerschütterlich an seinem privilegierten Platz und verdrängt sogar die beiden Federhalter von Victor Manuel, die ihn immer so fasziniert haben; der dunkle Band mit den Erzählungen von Father Brown, über dessen Ledereinband man so zärtlich mit den Fingern streichen kann, ist wie ein stechender Schmerz in der Erinnerung: Der alte Dr. Valdemira hat ihm die Erzählungen vor so vielen Jahren ans Herz gelegt, damals, als Mario Conde noch nicht ahnte, dass er einmal ein Kollege von Chestertons Detektivpriester werden würde. Und der Mahagonischreibtisch ist unsterblich, immens groß wie die Wüste und schön wie eine Frau. Ein guter Schreibtisch, um daran zu schreiben. Lediglich das Leder des Drehstuhls wirkt ein wenig erschöpft, das echte Bisonleder ist mehr als dreißig Jahre alt; auf ihm saß derjenige, der in der Nacht vor Prüfungen den Stoff mit ihnen durchging. Ein Ehrenplatz für den, »der am meisten wusste«. Als Mario Conde zum ersten Mal dieses Zimmer betrat, kam er sich klein und verlassen und schrecklich ungebildet vor. Noch heute erinnert er sich an das nagende Gefühl intellektueller Minderwertigkeit, von dem er sich nie befreien konnte.
»Ich habe oft von diesem Zimmer geträumt«, sagt er. »Doch selbst im Traum konnte ich mich nicht daran erinnern, dass dein Vater ein Telefon hatte. Oder doch?«
»Nein, nie. Papa hasste zwei Dinge auf den Tod«, erinnert sie sich. »Eins davon war das Telefon. Das andere war das Fernsehen, was zeigt, dass er ein sehr sensibler Mann war.« Sie lässt sich in einen der beiden Sessel fallen, die vor dem Schreibtisch stehen.
»Und wie lassen sich die beiden Phobien mit diesem Kamin in einer Bibliothek in Havanna vereinbaren?«, fragt er. Er hockt sich vor den kleinen, aus roten Ziegeln gemauerten Kamin und spielt mit einem der beiden Feuerhaken.
»Er hatte sogar Holz und alles. Er ist schön, unser Kamin, nicht wahr?«
»Mein Motto ist: Höflich, aber direkt. Solange auf Kuba kein Schnee fällt, weiß ich nicht, wozu so was gut sein soll.«
Sie lächelt melancholisch.
»Der Kamin ist die Tarnung für einen Tresor. Ich habs erfahren, als ich ungefähr zwanzig war. Papa war eine Persönlichkeit. Eine richtige Persönlichkeit.«
Er legt den Feuerhaken zur Seite und setzt sich neben Tamara in den zweiten Sessel. Die Bibliothek wird nur durch die kleine Jugendstillampe mit dem Bronzefuß und dem Schirm aus tiefvioletten Weintrauben erleuchtet. Tamaras Gesichtshälfte erhält in dem Licht eine warme, bernsteinfarbene Tönung. Sie trägt einen sportlichen Overall von demselben Dunkelblau wie die Espasa-Calpe, der der ehemaligen, inzwischen etwas in die Breite gegangenen Tänzerin schmeichelt und ihre Formen betont.
»Rafael hat vor sieben oder acht Jahren einen Anschluss hier herein legen lassen. Er kann nämlich ohne Telefon nicht leben.«
Er nimmt die Entscheidung Rafaels zur Kenntnis, und plötzlich spürt er auf den Schultern das Gewicht eines zu langen Tages, an dem von nichts anderem als von Rafael Morín die Rede gewesen ist. So viele Leute haben ihm von Rafael erzählt, dass er langsam zu zweifeln beginnt, ob er ihn wirklich kennt oder ob es sich um eine Art Jahrmarktsattraktion handelt mit tausend Gesichtern, die sich wie die von Familienangehörigen ähneln, sich aber deutlich voneinander unterscheiden. Er würde lieber von anderen Dingen reden, ihr zum Beispiel sagen, dass er den ganzen Weg über Strawberry Fields gesungen hat. So etwas würde er ihr jetzt gerne gestehen. Oder ihr sagen, dass sie mit jedem Tag besser aussieht, attraktiver. Doch er befürchtet, dass sie solche Geständnisse banal und abgedroschen finden könnte.
»Ich habe zu spät erfahren, dass dein Vater gestorben ist. Sonst wär ich zur Beerdigung gekommen«, sagt er stattdessen, denn die Anwesenheit des alten Diplomaten in diesem Zimmer ist mit den Händen zu greifen.
»Ach, mach dir deswegen keine Gedanken.« Sie schüttelt leicht den Kopf, und das führt dazu, dass die Haarsträhne wieder
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