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Ein perfektes Leben

Ein perfektes Leben

Titel: Ein perfektes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonardo Padura
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Pfundskerl, jawohl! Hab nie verstanden, warum sie in die Vereinigten Staaten gegangen ist. Konnte es kaum glauben, als man mirs erzählt hat. Wo sie doch eine von uns war! Was wird wohl aus ihr geworden sein … Der Hasenzahn kann nichts dagegen tun, dass seine Zähne im Freien stehen. Weiß der Himmel, ob er lacht oder nicht, bei diesen Hauern wusste man das nie. Auch er ist dünn wie eine Bohnenstange. Er hatte Geschichtswissenschaften als erste Option gewählt und als zweite Geschichte fürs Lehramt. Zu der Zeit war er überzeugt davon, dass, hätten die Engländer 1763 Havanna nicht verlassen, Elvis Presley möglicherweise in Pinar del Río geboren wäre oder in River Pine City oder was für einen Blödsinn er sich ausdachte. Er immer mit diesen Zuckerrohrernte-Stiefeln, die er in der Schule anhatte und abends zum Flanieren und am Samstagabend auf den Partys. Er war so dünn, weil ihm gar nichts anderes übrig blieb. Bei uns zu Hause fressen wir Kabel, sagte er, nicht im übertragenen Sinne, sondern wirklich: Kabel, die sein Vater Gregorio, der »Goyo«, von seiner Arbeit als Elektriker mit nach Hause brachte. Kabelspaghetti, Kabelkroketten, Kabel mit Kartoffeln. Tamara macht ein ernstes Gesicht, aber so sieht sie noch besser aus, noch … hübscher? Eine hellbraune Haarsträhne fällt ihr locker in die Stirn, unbezähmbar, immer über das rechte Auge, was ihr so ein Aussehen verleiht, ich weiß nicht, wie die Honorata von Van Gult. Und Dulcita direkt neben ihr, man würde sagen, Dulcita hätte damals besser ausgesehen; aber Tamara, das war etwas anderes. Nicht nur hübsch, toll, süß, zum Anbeißen, nein, man wollte sie mit Haut und Haaren fressen, mit Rock und Bluse und allem, sagte ich einmal zum Dünnen, auch wenn ich eine Woche lang Stoff kacken muss. Man hatte auch Lust, sich an einem schönen Nachmittag mit ihr alleine auf einen kurz geschnittenen Rasen zu setzen und den Kopf auf ihre betörenden Schenkel zu legen, sich eine Zigarette anzuzünden, dem Gesang der Vögel zu lauschen und glücklich zu sein. Sie hatte Zahnmedizin angekreuzt und als zweite Option Medizin. Es ist schade, dass sie so ernst dreinblickt, denn die zukünftige Zahnärztin hatte Zähne, mit denen sie nie zum Zahnarzt gehen musste. Mein erster Patient wird der Hasenzahn sein, sagte sie, wenn ich dich bei meinem Examen auf dem Stuhl sitzen habe, rück ich dir die Hauer zurecht, und dann geben sie mir sofort den Doktortitel, sagte sie zu ihm. Ich mache mein erschrecktes Gesicht. Ich stehe ganz rechts außen, neben Tamara natürlich, wie immer, wenn es irgendwie möglich war. Und meine Hosen, also, die wurden über den Knien abgeschnitten, damit meine Mutter die Beine verkehrt herum wieder annähte, der weite Mittelteil nach unten und der untere Teil, der engere, nach oben. Die einzige Möglichkeit für unsereinen, an eine Hose mit einigermaßen weitem Schlag zu kommen, so wie man sie damals trug. Die Tennisschuhe ohne Strümpfe, beide geflickt am kleinen Zeh, der bei mir übersteht, immer scheuerte sich der Stoff an derselben Stelle durch. Ich lächle, aber es ist ein gezwungenes Lächeln, etwas schief, mit einem ausgehungerten Gesicht, zum Fürchten, ich hatte zu der Zeit schon Ringe unter den Augen. Und ich denke: Ich weiß nicht, ob ich Literatur studieren darf, in diesem Jahr gibt es fast keine Plätze. Ich hab einen guten Notendurchschnitt und würde liebend gerne Literatur studieren, aber das Auswahlverfahren ist die reinste Wundertüte. Dass ich als zweites Psychologie und nicht Zahnmedizin angegeben hatte, war wegen Tamara, außerdem kann ich kein Blut sehen. Aber vielleicht wäre Geschichte besser gewesen, wie der Hasenzahn, ich weiß nicht. Psychologie? Ein Beruf mit Zukunft, aber ich hab mich noch nie entscheiden können, hatte immer Probleme damit. Da ist es nur logisch, dass ich keine rechte Lust habe zu lächeln, auf jenem letzten Foto von uns, wie wir die Freitreppe herunterkommen, kurz vor der Abschlussprüfung, die wir alle bestehen werden, weil sie in der 13 keinen mehr durchfallen lassen, na ja, falls es nicht wieder zu einem ›Water-School-Skandal‹ kommt und sie uns keine Prüfungsaufgaben stellen, die uns das Genick brechen. (Wie in der 13 im letzten Jahr, auch Dulcita musste die Klasse deshalb wiederholen, obwohl sie doch so intelligent ist.) Also, wir werden alle bestehen, ganz bestimmt. Auf der Rückseite des Fotos steht »Juni 1975«, und wir waren alle noch gleich arm – fast alle –, aber glücklich. Der

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