Ein perfektes Leben
Dünne ist noch dünn, Tamara ist mehr als … hübsch?, Dulcita ist noch eine von uns, der Hasenzahn träumt davon, die Geschichte umzuschreiben, und ich werde Schriftsteller, wie Hemingway. Das Fotopapier ist mit den Jahren vergilbt, außerdem ist es mal nass geworden und an einer Ecke ausgefranst. Und wenn ich mir das Foto ansehe, bekomme ich einen Moralischen, denn der Dünne ist nicht mehr dünn, und hinter der Kamera, unsichtbar, aber anwesend, hat immer Rafael gestanden.
Er drückte viermal hintereinander auf die Klingel, hämmerte mehrmals gegen die Tür, rief »Niemand zu Hause?!« und hüpfte auf der Stelle. Die Nähe der Toilette hatte bei ihm einen stechenden Harndrang hervorgerufen, er konnte es nicht mehr aushalten und hämmerte erneut gegen die Tür.
»Ich habe Hunger, richtig Hunger, und ich muss pinkeln«, sagte er noch vor der Begrüßung. Dann gab er der Frau einen Kuss auf die Stirn und neigte den Kopf, jetzt schon beinahe im Laufen, damit sie ihn ebenfalls auf die Stirn küssen konnte. Es war eine Gewohnheit aus der Zeit, als der dünne Carlos noch dünn gewesen war und Mario Conde seine Tage in diesem Haus verbracht hatte. Sie hatten Tischtennis gespielt, mit mehr als zweifelhaftem Erfolg tanzen zu lernen versucht und vor Prüfungen frühmorgens Physik gebüffelt. Aber inzwischen war der dünne Carlos nicht mehr dünn, und nur er nannte ihn noch so. Carlos wog jetzt mehr als zweihundert Pfund und starb in einem Rollstuhl einen langsamen Tod. 1981 in Angola hatte er eine Kugel in den Rücken gekriegt, direkt über der Hüfte, und die hatte ihm das Rückenmark zerstört. Fünfmal war er seitdem operiert worden, doch das hatte seinen Zustand nicht verbessert. Jeden Tag wachte der Dünne mit einem neuen Schmerz auf, einem toten Nerv oder einem weiteren Muskel, der für immer unbeweglich blieb.
»Mein Gott, Junge, wie siehst du denn aus!«, rief Josefina, als sie ihn aus dem Badezimmer kommen sah. Sie reichte ihm ein halb volles Glas Kaffee.
»Ich geh auf dem Zahnfleisch, Jose, und ich hab Hunger zum Umfallen.« Er gab ihr das Glas zurück, nachdem er es auf einen Zug ausgetrunken hatte.
Erleichtert und rauchend trat er in das Zimmer seines Freundes. Der Dünne saß im Rollstuhl vor dem Fernseher. Er machte ein besorgtes Gesicht. »Die präparieren gerade den Rasen, sagen sie, vielleicht wird doch noch gespielt … Um Himmels willen, nein!«, protestierte er, als er die Flasche Rum sah, die sein Freund auspackte.
»Wir müssen reden, Bruder, aber erst mal brauch ich einen ordentlichen Schluck. Wenn du nicht willst … «
»Scheiße, du bringst mich noch um«, entgegnete der Dünne und rollte auf Mario zu. »Für mich bitte kein Eis, der Santa Cruz ist erstklassig.«
El Conde verließ das Zimmer und kam mit zwei Gläsern und einem Korkenzieher bewaffnet zurück.
»Also, du, wie läufts?«
»Ich komm gerade von Tamara, Dünner. Sieht besser aus denn je, dieses Weib, ich schwörs dir. Nicht dass sie nicht auch älter würde, aber sie wird immer besser.«
»So Frauen gibt es. Würdest du sie noch immer gerne heiraten?«
»Halt doch die Schnauze … Wirklich ausgezeichnet, der Rum.«
»Lass es langsam angehen, Alter! Du siehst heute richtig Scheiße aus.«
»Das macht der Schlafmangel. Und der Hunger. Und außerdem fallen mir die Haare aus.« Er zeigte ihm die lichten Stellen am Haaransatz. Dann trank er noch einen Schluck. »Na ja, Rafael ist und bleibt verschwunden, und kein Schwein weiß, wo er steckt und warum er verschwunden ist. Nicht mal, ob er noch lebt oder schon tot ist … «
Der Dünne war unruhig. Er warf einen Blick auf den Fernseher, über dessen Bildschirm ein Musikvideo flimmerte, während alle Welt auf den Beginn des Baseballspiels wartete. Von den Leuten, die Mario Conde kannte, war Carlos, noch weit vor ihm selbst, derjenige, der beim Baseball am meisten litt, schon als er noch dünn war und in der Oberstufenmannschaft centerfield spielte. Die einzigen beiden Male, die Mario ihn hatte weinen sehen, war wegen Baseball gewesen. Sein Schluchzen war ein Bolero-Schluchzen, Schnodder und Rotz hatte er geheult, ohne dass irgendjemand ihn hätte trösten können.
»Das Leben steckt voller Überraschungen«, sagte der Dünne und musterte seinen Freund. »Dass ausgerechnet du Rafael Morín suchst … «
»So überraschend ist das nun auch wieder nicht, Dünner. Rafael ist noch immer derselbe, ein opportunistisches Arschloch, das wer weiß wie viele Schweinereien gemacht hat,
Weitere Kostenlose Bücher