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Ein perfektes Leben

Ein perfektes Leben

Titel: Ein perfektes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonardo Padura
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dazu führt, dass wir Gerechte für den Sünder werden büßen müssen. Auch eine Anspielung auf die Bibel durfte natürlich nicht fehlen. Das wird uns beim Erntewettbewerb sehr schaden, wo wir den Sieg auf Provinzebene doch schon so gut wie sicher hatten. Und das wegen der Disziplinlosigkeit eines Einzelnen? Ist das gerecht? Dass die Mühen von einhundertzwölf Genossen, jawohl, von einhundertzwölf, denn den einen zähle ich nicht mehr dazu, auf diese Weise zunichte gemacht werden? Ihr kennt mich, Genossen, einige von euch sind jetzt drei Jahre mit mir zusammen, ihr habt mich zum Vorsitzenden der Schülervertretung gewählt, ich bin ein Schüler der Oberstufe wie ihr, aber so etwas kann ich nicht auf sich beruhen lassen, das schadet dem Ansehen der revolutionären Schülerschaft Kubas und zwingt die Schuldirektion, Disziplinarmaßnahmen gegen alle Schüler zu ergreifen. Stille. Totenstille. Und ich frage euch, die ihr bereits Männer seid und wie Männer fühlt: Wirft ein Mann der obersten Autorität eines Lagers im Dunkeln einen Stiefel an den Kopf? Und mehr noch: Verhält sich so ein Mann? Versteckt sich ein Mann in der Menge und steht nicht für seine Taten ein, wohl wissend, dass wir alle bestraft werden? Sagt mir das, Genossen, sagt etwas, flehte er förmlich, und ich schrie: Fick doch deine Mutter, du Arschloch! Ganz laut schrie ich, damit alle es hören konnten. Nur dass die Worte nicht aus meinem Mund drangen, weil ich Angst hatte, einen Rafael Morín aufzufordern, seine Mutter zu ficken, bei dieser Kälte, und Pancho mit seinem Asthma, und Miki, der durch die Reihen ging und zischte, wer was sagt, den bring ich um, und dem Kaffeeduft, der mich umbrachte, und dem Lagerleiter, der sich ein Handtuch auf die Nase drückte, weil man ihm einen Stiefel an den Kopf geworfen hatte.
     
    Als El Conde die Zentrale betrat, stellte er überrascht fest, dass er sich nach dem Frieden der Sonntage sehnte. Es war erst fünf nach acht, doch es war Montag, und wie an jedem Montag sah es aus, als würde die Welt untergehen oder die Zentrale sich auf die Evakuierung während eines Atomkriegs vorbereiten. Es gab keinen freien Parkplatz, keiner nahm sich die Zeit, auf den Fahrstuhl zu warten, alle rannten die Treppen hinauf, und man begrüßte sich mit einem flüchtigen »Alles klar, wir sehen uns gleich« oder einem hastigen »Guten Morgen«.
    Noch benommen von den Nachwehen der schlimmen Nacht und den entsprechenden Kopfschmerzen zog es der Teniente vor, lediglich die Hand zum Gruß zu heben. Geduldig wartete er vor dem Aufzug. Er wusste, in einer halben Stunde würde es ihm schon viel besser gehen. Aber die Duralginas brauchten ihre Zeit, bevor sie wirkten, obwohl er sich heute nicht vorwerfen musste, sie nicht schon vor dem Schlafengehen genommen zu haben. Nach der Unterhaltung mit dem Dünnen hatte er sich geläutert und befreit gefühlt und hatte sogar vergessen, dass er ihm nichts von seinem Abenteuer mit Tamara erzählt hatte. Und den Wecker zu stellen hatte er ebenfalls vergessen. Doch ein weiteres Kapitel des Albtraums, in dem Rafael Morín hinter ihm her war, um ihn zu verhaften, hatte ihm um Punkt sieben Uhr die Augen geöffnet. Danach hatte er mindestens zweimal sterben wollen: als er aufgestanden war und die Kopfschmerzen begonnen hatten und als ihm auf dem Klo der endlose Albtraum der letzten Nacht wieder eingefallen war, das grässliche Gefühl, verfolgt zu werden, das noch in seinem Kopf herumspukte. Da hatte er zu singen angefangen: »Du hast Schuld / an all meinen Ängsten / an all meinem Kummer … « Warum er ausgerechnet auf diesen schrecklichen Bolero gekommen war, wusste er nicht. Bestimmt, weil er verliebt war.
    Der Aufzug hielt in seiner Etage. El Conde sah auf die Wanduhr. Er kam zehn Minuten zu spät, hatte aber weder die Absicht noch Lust, sich eine Ausrede einfallen zu lassen. Als er die Tür seines Büros öffnete, wurde er von Patricia Wongs Lächeln begrüßt. Eine Wohltat.
    »Guten Morgen, Freunde«, sagte er. Patricia erhob sich, um ihm den üblichen Begrüßungskuss zu geben. Manolo sah ihn etwas reserviert an, ohne den Mund aufzumachen. »Wie gut du riechst, China«, sagte der Teniente zu seiner Kollegin und musterte, wie er es immer tat, dieses Prachtweib, Ableger einer Schwarzen und eines Chinesen. Fast einhundertachtzig Zentimeter und einhundertachtzig nach bestem Wissen und Gewissen und in bester Absicht verteilte Pfunde, kleine, wahrscheinlich sehr feste Brüste, Hüften wie der Pazifik,

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