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Ein perfektes Leben

Ein perfektes Leben

Titel: Ein perfektes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonardo Padura
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den letzten Rest seiner Geistesgegenwart zu verlieren und sich nicht wieder zu Tode zu schämen und keine Beichte abzulegen: Dünner, Tamara hat mir heute angeboten, sie zu ficken, denn klar, das musste von ihr ausgehen, ich hab mir vor Angst fast in die Hose geschissen, und wir gehen also rauf und … Ja, ihre Titten sind genau so, wie wir sie uns immer vorgestellt haben, und als es so weit ist, nichts, gar nichts, null, aber dann plötzlich ist doch noch was, und ich komm, einfach so, Mann, wir hatten kaum angefangen, und sie zu mir, ist nicht schlimm, kann passieren, ist nicht so schlimm … »Scheiße, Dünner, uns passieren Sachen, dass man sich zu Tode schämen muss, oder nicht? Gib die Flasche rüber, los, Dünner, komm.«

3
    Das Wecken war jeden Morgen eine Katastrophe. Wenn einem der apokalyptische Lärm der Glocke in die Ohren dröhnte, schien das Ende der Welt gekommen. Sogar der Hasenzahn wachte davon auf. Der Lagerleiter hatte seinen Spaß daran, die Glocke mit einem Klöppel zu bearbeiten, und dazu schrie er »Aufstehn, los, aaauuuf-stehn!« Selbst wenn wir schon auf den Beinen gewesen wären oder vor ihm einen Handstand auf einer Hand vollführt hätten, er hätte trotzdem weitergemacht, immer drauf auf die Glocke, immer feste drauf! Bis zu dem Tag, als der Stiefel der Gerechtigkeit lehmverkrustet durch die Dunkelheit flog und ihm die Nase zertrümmerte. Er plumpste auf den Hintern, die Glocke fiel ihm aus der Hand, und jeder, der den Stiefel nicht hatte fliegen sehen, fragte sich erleichtert und glücklich, warum der Lärm wohl aufgehört hatte.
    Eine Viertelstunde später standen wir in Reih und Glied auf dem Platz zwischen Schlafsälen und Esstrakt: die acht Brigaden, fünf aus der 11 und drei aus der 13, vor dem Regimentsstab des Lagers, eine Stunde vor Sonnenaufgang. Es war arschkalt, die morgendliche Feuchtigkeit drang uns in die Knochen, und wir wussten, dass uns nichts Gutes erwartete. Miki Cara de Jeva, einer der Brigadeführer aus der 13, ging durch die Reihen und zischte: Wer was sagt, den bring ich um … Der Lagerleiter hielt sich ein Handtuch vor die Nase. Ich konnte buchstäblich die Giftpfeile sehen, die aus seinen Augen schossen. Pancho, der hinter mir stand, hatte sich in eine Decke gehüllt. Auch er musste hier draußen in der kalten Nässe stehen. Sein Atem ging schwer wie ein Blasebalg. Als ich ihn schnaufen hörte, hatte ich das Gefühl, dass auch ich gleich keine Luft mehr kriegen würde.
    Als Erster sprach der Sekretär unserer Schule. Jemand habe sich eine schwer wiegende Disziplinlosigkeit zu Schulden kommen lassen, was ihm den Verweis von der Schule einbringen werde. Mildernde Umstände oder Berufung ausgeschlossen. Wenn er, der Schuldige, ein Mann sei, solle er vortreten. Stille. Wie es zu einer solchen Disziplinlosigkeit kommen könne bei einem freiwilligen Arbeitseinsatz der Oberstufe, dies sei keine Besserungsanstalt für straffällig gewordene Jugendliche, und so ein Schüler sei wie eine verfaulte Kartoffel in einem Sack voller guter Kartoffeln. Sie verderbe die anderen und stecke sie mit ihrer Fäulnis an. Dieses Beispiel wurde immer gerne genommen. Da es keine Äpfel gab, nahm man eben Kartoffeln. Der Hasenzahn sah mich an, so langsam wurde er wach. Stille. Stille. Und niemand meldet den Übeltäter, der gegen die Disziplin verstoßen hat, fuhr der Sekretär fort, den Schuldigen, der dem Ansehen des gesamten Kollektivs schadet, das so um seine Chance gebracht wird, den Erntewettbewerb zu gewinnen, und das nach der täglichen Anstrengung in den Zuckerrohrfeldern? Stille. Stille. Stille. Der Dünne hob die Augenbrauen. Er wusste, was kommen würde. Also gut, wenn der Schuldige sich nicht meldet und niemand die Courage hat, ihn zu benennen, dann müssen eben alle bezahlen, bis wir herausfinden, wer es war. So etwas kann man nicht auf sich beruhen lassen … Auf die Ansprache des Sekretärs folgte das Schweigen der Welt. Die erste und raffinierteste Folter, der man uns aussetzte, war der Duft des Kaffees, der in der Küche bereits in Kannen gefüllt wurde. Dazu die Kälte und Pancho, der keine Luft mehr bekam.
    Und dann sprach das Orakel von Delphi. Ich rede als Mitschüler zu euch, sagte Rafael, als Genosse und euer von allen gewählter Vertreter. Ich weiß wie ihr, dass sich jemand eine schwer wiegende Disziplinlosigkeit zu Schulden hat kommen lassen, die sogar als Körperverletzung vors Gericht gebracht werden kann … Hör dir den an, sagte der Hasenzahn … und die

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