Ein perfektes Leben
schreiben, und an der er sich jetzt wieder einmal dieselbe Frage gestellt hätte, um sich die einzige Antwort zu geben, die ihn in Frieden weiterleben ließ: weil er schon immer ein Scheißkerl gewesen war. Und warum sonst noch?
»Darf ich Musik auflegen?«
»Nein, jetzt nicht«, sagt sie und legt ihren Kopf auf die Rückenlehne des weichen Sofas. Ihre Augen blicken an die Zimmerdecke, und ihr scheint wieder kalt zu sein. Sie hat die Ärmel ihres weiten Pullovers heruntergezogen und die Arme verschränkt. Er zündet sich eine Zigarette an und lässt das Streichholz in den Murano-Aschenbecher fallen.
»Woran denkst du?«, fragt er sie schließlich und blickt ebenfalls an die Decke. Ein Dach ist ein Dach.
»An das, was geschehen ist, was du mir erzählt hast. Woran sollte ich sonst denken?«
»Hattest du keine Ahnung davon? Wirklich nicht?«
»Was soll ich dazu sagen, Mario?«
»Aber du hättest doch etwas bemerken müssen, Verdacht schöpfen … «
»Welchen Verdacht denn? Dass er die Hi-Fi-Anlage gekauft oder Whisky oder ein Fahrrad für den Jungen mitgebracht hat? Oder ein Kleid für hundertfünfzig Dollar? Ist so etwas verdächtig?«
Er denkt: Das alles ist ganz normal. Für sie war so etwas schon immer ganz normal. Sie ist hier hineingeboren worden, in dieses Haus, in diese Normalität, die einen das Leben mit anderen Augen sehen lässt, schöner und weniger schwer. Und er fragt sich, ob es nicht Tamaras Welt war, die Rafael um den Verstand gebracht hat. Doch er weiß, dass das nicht stimmt.
»Wie geht es jetzt weiter, Mario?« Sie hat sich von der Zimmerdecke abgewendet, setzt sich auf und zieht einen Fuß unter den Oberschenkel. Sie verjagt die hartnäckige Haarsträhne, um ihn anzusehen.
»Als Nächstes muss zweierlei geschehen. Erstens muss Rafael wieder auftauchen, tot oder lebendig, in Kuba oder sonst wo. Und dann muss Maciques uns erzählen, was er weiß. Möglicherweise hilft uns das herauszufinden, wo Rafael sich zurzeit aufhält.«
»Das ist ein Erdbeben.«
»Wie bei einem Erdbeben, ja«, stimmt er ihr zu. »Alles, was nicht sicher ist, stürzt ein. Ich kann verstehen, dass du dich so fühlst. Aber das Schlimmste ist vorbei, glaube ich. Kannst du dir vorstellen, dass Rafael nach Barcelona kommt, das gesamte Geld abhebt und damit verschwindet?«
»Das stelle ich mir schön vor. Wir würden nach Genf gehen und in einem Haus mit Ziegeldach wohnen, auf einem Hügel.«
Sie steht auf und geht in die Küche. Er kann es nicht vermeiden, sieht ihr hinterher, wie immer. Nur dass er diesen Hintern inzwischen unverhüllt gesehen hat. Er hat die Formen dieses fürs Ballett ungeeigneten Körpers nachgezeichnet, hat seine Hände und seinen Mund über ihn wandern lassen. Doch die Erinnerung daran schmerzt ihn wie ein eingewachsener Stachel, den man besser nicht berührt. Ein Haus in Genf? Wieso Genf? Er fährt sich mit den Fingern durchs Haar und denkt, ja, du kriegst so langsam eine Glatze, das hattest du ganz vergessen. Er steht ebenfalls auf, vergisst die beginnende Kahlköpfigkeit, das Haus in Genf und Tamaras Hintern und sucht zwischen den Schallplatten etwas, das ihn wieder aufrichten könnte. Ja, das ist es, denkt er, als er die LP von Sarah Vaughan entdeckt, Walkman Jazz. Er legt sie auf den Plattenteller und stellt den Apparat sehr leise ein, damit diese wunderbare schwarze Sängerin Cheek to Cheek für ihn singt. Zusammen mit der dunklen, warmen Stimme von Sarah Vaughan kommt Tamara ins Zimmer zurück, zwei Gläser in der Hand.
»Beginnen wir mit der allgemeinen Vernichtung! Rafaels Whiskyvorräte gehen zur Neige«, sagt sie und reicht ihm ein Glas. Sie setzt sich wieder aufs Sofa und trinkt den ersten Schluck. Den Schluck eines trainierten Matrosen.
»Ich weiß, wie du dich fühlen musst. Ist nicht einfach, weder für dich noch für irgendjemand sonst. Aber dich trifft keine Schuld, und mich noch weniger. Trinken wir darauf, dass all das nicht geschehen ist und Rafael der ist, für den ihn alle gehalten haben, und dass ich mit dem Ganzen nichts zu tun habe.«
»Bereust du irgendetwas?«, fragt sie lauernd. Sie hat die nötige Temperatur erreicht und schiebt die Ärmel bis zu den Ellbogen hoch. Wieder trinkt sie einen Schluck.
»Ich bereue nichts. Ich sag das nur wegen dir.«
»Du brauchst nicht für mich zu sprechen. Wenn Rafael das Geld unterschlagen hat, muss er dafür büßen. Niemand hat ihn dazu gezwungen. Ich hab nie etwas von ihm verlangt, das weißt du ganz genau, Mario Conde.
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