Ein perfektes Leben
Verfügung stellen würde. Mario Conde betrachtete das Papier, das am Stamm eines Lorbeerbaumes hängen geblieben war. Er musterte die beiden aufgetakelten, einsamen Homosexuellen, die zitternd vor Kälte an ihm vorbeigingen und ihn ihrerseits mit unbefangenen und ziemlich eindeutigen Blicken musterten. Er sah den Mulatten, der friedlich an einer Laterne lehnte, sah die perfekten Rastazöpfe, die unter der schwarzen Baskenmütze hervorkamen; wahrscheinlich wartete er auf den erstbesten ansprechbereiten Ausländer, um ihm ein verzweifeltes Geschäft anzubieten, fünf Pesos für einen Dollar, sechs, Mister, sieben, Brother, ich hab auch Haschisch, und das alles nur, um sich die Tore zu der verbotenen Welt des Überflusses zu öffnen. Mario Conde sah die Laterne auf der Straßenseite gegenüber, wo sich die grell geschminkte Blondine totfror, mit aufdringlicher Geilheit im Blick und dem Versprechen, heiß zu sein auch bei Schnee und Eis, mit ihrem leidenschaftlichen Saugmund, die Blondine, für die ein Normalsterblicher aus nationaler Produktion weniger wert war als die Spucke eines Besoffenen, sie wartete auf dieselben Dollars wie ihr Freund, der Mulatte mit der Rastafrisur, nur dass sie eins zu dreißig tauschte: ihren jugendlichen, geübten, wohlduftenden Körper, garantiert ohne Tollwut und andere Krankheiten, für dreißig Dollar, Traum ihrer schlaflosen Nächte, französisch extra, of course. Er sah den Jungen auf Rollschuhen über eine Holzkiste springen und in die Dunkelheit davonrollen. Er gelangte zum Parque Central und hätte sich am liebsten in die ewige Diskussion über Baseball eingemischt, die jeden Tag, ob kalt oder heiß, hier geführt wurde, auf der Suche nach einer Erklärung für eine weitere Niederlage dieser verdammten Industriales. Die müssen den Arsch zusammenkneifen, hätte er fast geschrien, in Erinnerung an den Dünnen, der nicht mehr dünn war und auch nicht mehr so beweglich, um hier zu sein und selbst zu schreien. Er sah die Lichter des Hotels ›Inglaterra‹ und das Halbdunkel des Teatro García Lorca, die Schlange vor dem Kino Payret, den traurig vor sich hin stinkenden Eingang des Centro Asturiano und die ins Auge springende Hässlichkeit des Häuserblocks Gómez, von dessen Wänden der Putz blätterte. Er nahm den unverwüstlichen Herzschlag einer Stadt wahr, die er besser zu machen versuchte, und dachte an Tamara. Sie wartete auf ihn, und er würde zu ihr gehen, nur um auch ihr diese Frage zu stellen, mehr nicht.
Mehrere Monate später, wenn der Fall Rafael Morín gelöst und zu den Akten gelegt war, wenn René Maciques seine Strafe verbüßte und die schöne Tamara ihn mit ihren immerfeuchten Augen anblickte, würde er sich wieder dieselbe Frage stellen. Er würde sich die traurige Situation von Rafael vorstellen, dem kleinen Wirtschaftsmagnaten in Miami, wo sein Vermögen von fünfhunderttausend Dollar so viel wert war wie ein Lotteriegewinn, von dem er sich nicht einmal das würde kaufen können, was er in Kuba mit seinem Einfluss als glänzender, vollstes Vertrauen genießender Kader auf einer endlosen Karriereleiter erreicht hatte.
Doch heute Abend blieb er nur bei den Fans der Industriales stehen und zündete sich eine Zigarette an. Alle waren sich einig, und sie machten sich ihrer kollektiven Wut lauthals Luft, dass der Manager der Mannschaft ein Vollidiot und der Star -pitcher ein Traumtänzer sei. Die von früher, ja, wenn die noch dabei wären, Chávez und Urbano, La Guagua und Lazo, die waren gut, erinnerte man sich, und da schob er sich in der Fantasie zwischen zwei riesige, wutschnaubende Schwarze, die ihn argwöhnisch musterten, wo kommt der denn her, und er schrie in die Runde: »Die müssen den Arsch zusammenkneifen!« Und damit ließ er die verblüfften Profikritiker stehen, überquerte bereits die Straße und trat in den Dunstkreis von Gas, getrockneter Pisse und präkolumbischer Kotze vor dem Eingang des Centro Asturiano, wo ein Pärchen versuchte, hinter einer Säule ihr brennendes Verlangen zu stillen, und stand plötzlich vor der verbarrikadierten Tür des ›Floridita‹, wegen Renovierung geschlossen, was seine Hoffnungen auf einen doppelten Añejo ohne Eis enttäuschte, getrunken in der für Hemingway reservierten Ecke oder mit dem Rücken an jene unsterbliche Holztheke gelehnt, an der Papa und Ava Gardner sich so skandalträchtig geküsst hatten und an der er, Mario Conde, sich vor vielen Jahren vorgenommen hatte, einen Roman über das Untergründige zu
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