Ein perfektes Leben
Schreibtisch.
René Maciques blickte zu ihm auf. Er war jetzt ein verwirrter Mensch, ein melancholischer, gealterter Bibliothekar. Sargento Palacios ließ ihm Zeit. Er wusste, dass dies der entscheidende Moment des Verhörs war, der Moment, in dem der Verhörte sich entscheiden muss, entweder mit der Wahrheit herauszurücken, oder sich an der Lüge festzubeißen. Doch Maciques hatte keine Wahl.
»Rafael hat mir eine Falle gestellt«, versuchte er sich dennoch herauszureden. »Ich weiß nichts von diesen Papieren. Hab sie nie im Leben gesehen. Haben Sie nicht gesagt, dass er unter meinem Namen aufgetreten ist? Das da ist ein weiterer Hinweis darauf.«
»Dann wollte Rafael Morín Ihnen schaden?«
»Sieht ganz danach aus.«
»Maciques, was werden wir in Ihrem Haus finden, wenn wir es durchsuchen?«
»In meinem Haus? … Nichts. Ganz normal. Unsereiner reist ins Ausland und bringt das eine oder andere mit.«
»Von welchem Geld? Von dem für repräsentative Verpflichtungen?«
»Wie ich Ihnen bereits erklärt habe, sparen wir einen Teil der Spesen.«
»Und wenn ein dickes Geschäft abgeschlossen wird, gibt es dann nicht Geschenke in natura? Einen Wagen zum Beispiel?«
»Ich habe aber keine dicken Geschäfte abgeschlossen.«
»Maciques, wären Sie fähig, einen Menschen umzubringen?«
Der Büroleiter hob wieder den Blick. Seine Augen hatten jeden Glanz verloren. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Wären Sie, oder wären Sie nicht?«
»Nein, natürlich nicht.« Zur Bekräftigung schüttelte er den Kopf.
»Was haben Sie am Einunddreißigsten in der Firma gemacht? Und kommen Sie mir nicht wieder mit dem Märchen von der Klimaanlage.«
»Aber was wollen Sie denn hören?«
El Conde trat noch näher an den Schreibtisch. Er stand jetzt direkt vor Maciques. »Schauen Sie, Maciques, ich habe nicht so viel Geduld wie mein Kollege. Ich werde Ihnen jetzt sagen, was ich über Sie denke. Und ich weiß, Sie werden alles abstreiten, aber am Ende werden Sie alles zugeben müssen. Heute, morgen, übermorgen … Sie sind ein Dreckskerl und ein Betrüger wie Ihr Chef, nur vorsichtiger als er, aber weniger mächtig. Wir sind dabei, in Spanien die Rechtsgültigkeit der Unterlagen zu überprüfen, und vielleicht erhalten wir Informationen von der Bank. Aber auf jeden Fall ist die Spur des Privatwagens leichter zu verfolgen, als Sie meinen. Aus irgendeinem Grund – aus welchem, weiß ich noch nicht – hat Rafael die Papiere bei sich zu Hause aufbewahrt. Vielleicht um sich vor Ihnen zu schützen, denn er traute Ihnen zu, dass Sie die Abrechnungen der unrechtmäßig kassierten Spesen und die erhöhten Kosten in seine Akte legen würden. Und eins sag ich Ihnen, Maciques: Rafael wird wieder auftauchen, tot oder lebendig, in Spanien oder in Grönland, ich weiß es nicht, aber er wird auftauchen, und Sie werden reden, aber auch wenn Sie nicht reden, stecken Sie bis zum Hals in der Scheiße, Maciques. Denken Sie an meine Worte. Und damit Ihnen das Denken leichter fällt, werden Sie eine Weile allein sein. Von heute an wohnen Sie in der Zentrale … Sargento, machen Sie die Formulare fertig und beantragen Sie beim Staatsanwalt Untersuchungshaft für den kubanischen Staatsbürger René Maciques. Mit möglicher Verlängerung. Wir sehen uns, Maciques.«
Mario Conde betrachtete die Lorbeerbäume, die am Paseo del Prado standen, in direkter Nähe zum Meer. Und er stellte sich immer dieselbe Frage. Von der Bucht her wehte eine scharfe Brise, die ihn zwang, die Hände in die Taschen seiner Jacke zu stecken. Aber er hatte das Bedürfnis nachzudenken und zu gehen, sich in der Menge zu verlieren, wobei er seine Freude über den Pyrrhussieg zu verbergen suchte, die Frustration eines zufriedenen Polizisten, der die Schlechtigkeit der Welt aufgedeckt hat. Warum hatte Rafael Morín so etwas getan? Warum wollte er mehr, immer mehr, viel mehr? El Conde stand vor dem »Heiratspalast« und betrachtete den schwarzglänzenden 57er Chrysler, der, mit Blumen und Luftballons geschmückt, auf die Frischvermählten wartete, die bereits in den Vierzigern waren und sich doch noch getraut hatten und jetzt auf der Treppe für das obligatorische Hochzeitsfoto lächelten. Er sah die Paare, die trotz der Kälte in der Schlange vor der Pizzeria des Prado ausharrten und sich anständige und unanständige Bemerkungen anhören mussten, weil sie eine Familie gründen wollten; aber sie brauchten die paar Quadratmeter überdachter Wohnfläche, die der Staat ihnen zur
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