Ein plötzlicher Todesfall
Lesbe«, sagte Terri.
Kay schrieb weiter.
»Saft«, brüllte Robbie mit schokoladenverschmiertem Kinn.
Diesmal rührte Kay sich nicht. Nach einer weiteren langen Pause kam Terri schwankend aus dem Sessel hoch und schlurfte hinaus auf den Flur. Kay beugte sich vor und schob den losen Deckel der Keksdose zurück, die Terri weggestellt hatte, als sie sich setzte. Darin lagen eine Spritze, ein bisschen schmuddelige Watte, ein rostig wirkender Löffel und ein staubiger Plastikbeutel. Kay machte den Deckel fest zu. Terri kam nach einigem fernen Klappern mit einem Becher Saft zurück, den sie dem kleinen Jungen in die Hand drückte.
»Da«, sagte sie, mehr zu Kay als zu ihrem Sohn, und setzte sich wieder. Beim ersten Versuch verfehlte sie den Sitz und prallte gegen die Armlehne. Kay hörte, wie Knochen auf Holz traf, aber Terri schien keinen Schmerz zu spüren. Sie lehnte sich in die durchhängenden Polster und musterte die Sozialarbeiterin mit verschlafener Gleichgültigkeit.
Kay hatte die Akte von vorne bis hinten gelesen. Sie wusste, dass fast alles an Wert in Terri Weedons Leben vom schwarzen Loch ihrer Drogensucht aufgesaugt worden war, dass es sie zwei Kinder gekostet hatte, dass sie an Krystal und Robbie kaum festhalten konnte, dass sie sich für Heroin prostituierte, alle möglichen Bagatelldelikte auf dem Kerbholz hatte und momentan zum x-ten Mal einen Entzugsversuch unternahm.
Aber sie schien nichts zu spüren, völlig gleichgültig zu sein. Im Moment , dachte Kay, ist sie glücklicher als ich .
III
Zu Beginn der zweiten Stunde nach dem Mittagessen verlieà Stuart »Fats« Wall die Schule. Sein Experiment in Sachen Schuleschwänzen nahm er nicht unbesonnen in Angriff. Am Abend zuvor hatte er beschlossen, die Doppelstunde in EDV am Ende des Nachmittags ausfallen zu lassen. Er hätte dafür jedes Fach wählen können, aber es traf sich, dass sein bester Freund Andrew Price in einem anderen Computerkurs war und Fats es trotz aller Bemühungen nicht geschafft hatte, in diesen Kurs überzuwechseln.
Möglicherweise war es Fats und Andrew gleichermaÃen bewusst, dass sich die Bewunderung in ihrer Beziehung hauptsächlich von Andrew auf Fats richtete, aber Fats ahnte, dass er Andrew mehr brauchte als Andrew ihn. Neuerdings empfand Fats diese Abhängigkeit immer mehr als Schwäche. Auf jeden Fall konnte er auf eine Doppelstunde verzichten, in der er sowieso ohne seinen Freund auskommen musste.
Von einem verlässlichen Informanten hatte Fats erfahren, dass man am sichersten aus der Winterdown abhauen konnte, ohne von einem Fenster aus gesehen zu werden, wenn man über die Mauer beim Fahrradschuppen kletterte. Geschickt hielt er sich an der Mauerkrone fest und lieà sich auf der anderen Seite fallen. Er landete wohlbehalten, stapfte den schmalen Pfad entlang und bog nach links auf die viel befahrene HauptstraÃe ab.
Aus der Gefahrenzone heraus, zündete er sich eine Zigarette an und schlenderte weiter an den heruntergekommenen kleinen Läden vorbei. Nach fünf Blocks bog Fats wieder links ab, in die erste StraÃe von Fields. Im Gehen lockerte er mit der einen Hand die Schulkrawatte, nahm sie aber nicht ab. Ihm war egal, dass er eindeutig als Schüler zu erkennen war. Fats hatte nie versucht, seine Schuluniform aufzupeppen, Buttons an sein Revers zu stecken oder den Krawattenknoten modisch zu binden. Er trug seine Schulkleidung mit der Verachtung eines Sträflings.
Fatsâ Meinung nach begingen neunundneunzig Prozent der Menschheit den Fehler, sich für das zu schämen, was sie waren, es zu verleugnen und zu versuchen, jemand anders zu sein. Ehrlichkeit war Fatsâ Währung, seine Waffe und sein Schutz. Es jagte den Menschen Angst ein, wenn man ehrlich war, es schockierte sie. Andere Menschen, hatte Fats herausgefunden, steckten in einem Morast aus Verlegenheit und Heuchelei, stets voller Furcht, dass die Wahrheit über sie ans Licht kommen könnte, doch Fats fühlte sich von Rohheit angezogen, von allem, was zwar hässlich, aber ehrlich war, von den schmutzigen Dingen, die Menschen wie seinen Vater beschämten und anwiderten. Fats dachte viel über Heilige und Parias nach, über Menschen, die als verrückt oder kriminell abgestempelt wurden, noble AuÃenseiter, die von der tumben Masse gemieden wurden.
Das Schwierige, das Glorreiche war, der zu sein, der man wirklich war, selbst wenn dieser
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