Ein plötzlicher Todesfall
genähert hatte. Damals hatte sie trotz ihrer Ausbildung und obwohl sie für gewöhnlich von einer Kollegin begleitet wurde, hin und wieder richtige Angst gehabt. Gefährliche Hunde, Messer schwingende Männer, Kinder mit grotesken Verletzungen, all das und Schlimmeres hatte sie in den Jahren vorgefunden, seit sie die Häuser von Fremden betrat.
Niemand reagierte auf die Klingel, aber durch das einen Spalt geöffnete Erdgeschossfenster links konnte sie ein kleines Kind quengeln hören. Sie versuchte es mit Klopfen, von der Tür blätterte ein helles Farbstück ab und fiel auf ihre Schuhspitze. Das erinnerte sie an den Zustand ihres neuen Hauses. Es wäre nett gewesen, wenn Gavin ihr Hilfe bei der Renovierung angeboten hätte, aber er hatte kein Wort dazu gesagt. Manchmal rechnete Kay zusammen, was er alles nicht gesagt oder getan hatte, wie ein Geizhals, der in seinen Schuldscheinen wühlt, wütend, verbittert und entschlossen, es ihm heimzuzahlen.
Sie klopfte noch einmal, eher, als sie es sonst getan hätte, weil sie sich von ihren Gedanken ablenken wollte, und diesmal sagte eine ferne Stimme: »Ich komm ja schon!«
Die Tür schwang auf und gab den Blick auf eine Frau frei, die gleichzeitig kindlich und uralt aussah, bekleidet mit einem dreckigen hellblauen T-Shirt und einer Männer-Pyjamahose. Sie war so groà wie Kay, aber abgemagert: Die Knochen ihres Gesichtes und das Brustbein zeichneten sich scharf unter der dünnen weiÃen Haut ab. Ihr Haar, selbstgefärbt, strohig und sehr rot, wirkte wie eine Perücke auf einem Totenkopf, ihre Pupillen waren winzig, und sie atmete sehr flach.
»Hallo, sind Sie Terri? Ich bin Kay Bawden vom Sozialdienst. Ich vertrete Mattie Knox.«
Die dünnen, grauweiÃen Arme der Frau waren mit silbrigen Pockennarben bedeckt, und an einem Unterarm war eine offene Entzündung zu sehen. Durch das Narbengewebe auf ihrem rechten Arm und am Halsansatz wirkte ihre Haut dort wie aus Plastik. In London hatte Kay einen Drogensüchtigen gekannt, der versehentlich sein Haus angezündet und es zu spät gemerkt hatte.
»Ja, okay«, sagte Terri nach längerer Pause. Wenn sie sprach, wirkte sie viel älter, denn ihr fehlten einige Zähne. Sie wandte Kay den Rücken zu und ging mit unsicheren Schritten durch den dunklen Flur voraus. Kay folgte ihr. Das Haus roch nach abgestandenem Essen, nach Schweià und festgetretenem Dreck. Terri führte Kay durch die erste Tür links in ein kleines Wohnzimmer.
Es gab keine Bücher, keine Bilder, keine Fotos, keinen Fernseher, nur zwei dreckige alte Sessel und ein zusammengebrochenes Regal. Abfall bedeckte den Boden. Die an der Wand aufgestapelten brandneuen Kartons wirkten völlig fehl am Platz.
Mitten im Zimmer stand ein kleiner Junge in einem T-Shirt und einer prall gefüllten Windel. Kay wusste aus der Akte, dass er dreieinhalb war. Sein Wimmern schien unbewusst und unmotiviert zu sein, eine Art Maschinengeräusch, um zu verkünden, dass er da war. Er hielt eine kleine Müslischachtel umklammert.
»Und du bist also Robbie?«, fragte Kay.
Der Junge schaute sie an, als er seinen Namen hörte, quengelte aber weiter.
Terri schob eine zerkratzte alte Keksdose zur Seite, die auf der Lehne eines der zerschlissenen Sessel gestanden hatte, rollte sich auf dem Sitz zusammen und musterte Kay aus halb geschlossenen Augen. Kay setzte sich auf den anderen Sessel, auf dessen Lehne ein überquellender Aschenbecher stand. Zigarettenkippen waren auf den Sitz von Kays Sessel gefallen, sie spürte sie unter sich.
»Hallo, Robbie«, sagte Kay und öffnete Terris Akte.
Der kleine Junge jaulte weiter und schüttelte die Schachtel, in der etwas klapperte.
»Was ist denn da drin?«, fragte Kay.
Er antwortete nicht, sondern schüttelte die Schachtel noch heftiger. Eine kleine Plastikfigur flog in hohem Bogen durch die Luft und landete hinter den Pappkartons. Robbie begann zu brüllen. Kay beobachtete Terri, die ihren Sohn mit ausdruckslosem Gesicht anstarrte. SchlieÃlich murmelte sie: »Was ist ân, Robbie?«
»Sollen wir mal probieren, ob wir es da wieder rauskriegen?«, fragte Kay, froh darüber, aufstehen und über ihre Beine wischen zu können. »Schauen wir mal.«
Sie stellte sich dicht an die Wand, um in den Spalt hinter den Kartons zu sehen. Die kleine Figur klemmte ziemlich weit oben. Kay zwängte ihre Hand in den
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